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Die Harbaughs: "First Family" der NFL

Die Harbaughs:

Bei allem Respekt vor den Obamas, aber die US-amerikanische „First Family“ sind Barack, Michelle und ihre Kids derzeit nur auf dem Papier.

Aktuell ist ein ganzes Sport-Land im Harbaugh-Fieber. Harbaugh hier, Harbaugh da, Harbaugh überall.

Begründen muss man dies wohl auch im deutschsprachigen Raum nicht mehr extra. Schuld sind John und Jim Harbaugh – die ersten Brüder, die sich in der Super Bowl – sorry, „Harbowl“ – als Head Coaches duellieren.

Johns Baltimore Ravens stehen Jims San Francisco 49ers gegenüber. Wie unwahrscheinlich eine derartige Familien-Reunion im Spiel aller Football-Spiele ist, verdeutlicht der Umstand, dass es diese Konstellation in der NFL-Geschichte selbst im Rahmen der Regular Season erst ein einziges Mal gab.

Dafür sorgten – irgendwie logisch – auch die Harbaughs. Der Hype war schon vor rund 14 Monaten zu Thanksgiving 2011 unermesslich.

„Fluch und Segen“

John und Jim liefern, was sich die NFL-Gemeinde seit knapp einem Jahrzehnt von den Mannings erträumt hätte: ein Showdown auf allerhöchstem Niveau. Peyton oder Eli standen seit 2007 in vier von sechs möglichen Endspielen, verfehlten sich jedoch stets zielsicher.

Während das Zeitfenster für eine „Manning Bowl“ immer enger wird, sich die beiden Klitschkos nicht gegeneinander in den Ring trauen, Duelle der beiden Williams-Sisters nur bedingt den Touch der Einzigartigkeit haben (Serena führt im Head-to-Head gegen Venus 13:10), und Ralf von Michael Schumacher meist nur die Rücklichter sah, sind die Harbaughs die kompetitivsten Sport-Geschwister der Gegenwart.

John und Jim vor dem Duell 2011 mit Papa Jack und weiteren Familienmitgliedern

Jack, Jackie und Joani stellten sich nämlich ob des anstehenden familiären Megaevents einem „Conference Call“ mit landesweiten Medienvertretern, die per Telefon zugeschaltet waren.

Unter anderem auch „John aus Baltimore“, der folgendes wissen wollte: „Ist es wahr, dass ihr beide Jim lieber mögt als John?“

Mama Jackie setzte schon zu einer empörten Antwort an, ehe Joani mit einem „Hey John, wie geht es dir?“ dazwischen ging. Sie hatte im Gegensatz zu ihren Eltern die Stimme ihres Bruders erkannt. Herzlicher Smalltalk folgte.

Jim, der Quarterback-Star

Dass sich John diesen Scherz mit seinen Eltern erlaubte, unterstreicht, dass die Harbaughs bei allem durchaus auch nervigen Rummel eine gewisse Relaxtheit bewahren.

Wobei John ohnehin als etwas entspannter und besonnener gilt als Jim, der auch an der Seitenlinie seinen Emotionen gerne freien Lauf lässt. Ganz abgesehen von seinen bisweilen schmallippigen öffentlichen Auftritten. In San Franciscos Sportjournalisten-Szene gilt es als Lotterie, ob man bei Pressekonferenzen dem unter Strom stehenden Jim H. jedes Wort aus der Nase ziehen muss oder doch dessen charmante Version vorgesetzt bekommt.

Dabei ist der Niners-Coach alles andere als auf den Mund gefallen. Vielleicht ist diese Herangehensweise ein Resultat dessen, dass der frühere Quarterback schon beinahe sein ganzes Erwachsenen-Leben im Rampenlicht steht. Ganz im Gegensatz zu John.

Wer von beiden der bessere Coach ist, lässt sich nämlich kaum messen. Klaren Favoriten gibt es in dieser Super Bowl keinen, der Ausgang erscheint völlig offen. Fest steht nur, dass der 3. Februar in New Orleans ein Feiertag für die Harbaugh-Familie wird. Ein bittersüßer Feiertag.

„Ich denke, es ist Fluch und Segen gleichzeitig“, findet Jim, „ein Segen, weil es gegen das Team meines Bruders geht, und auch weil ich selbst für die Ravens gespielt habe. Ich habe riesigen Respekt für diese Organisation. Der Fluch ist all das Gerede über zwei Brüder in der Super Bowl, und dass dies auf Kosten der Spieler geht. Jeder Moment, in dem John und ich besprochen werden, ist ein Moment weniger, in dem über einen Spieler gesprochen wird.“

Die Mama als Rückgrat

Auch John würde es begrüßen, wenn der Fokus mehr auf jene Akteure gerichtet werden würde, die während der 60 Minuten im Superdome tatsächlich im Rampenlicht stehen. Nichtsdestotrotz wird er nicht müde zu betonen, wie stolz er auf Jim und dessen Team ist: „Ich mag die 49ers. Sie sind wie Jim selbst, sie kämpfen bis zum Umfallen.“

Jim Harbaugh war in Stanford der Förderer von Andrew Luck

Sein Ruf als Quarterback-Guru beziehungsweise als Coach mit perfektem Auge für Talente, der zudem ins Trudeln geratene Organisationen wieder auf Vordermann bringt, war geboren. Was lag also näher, als im Jänner 2011 das Angebot eines Fünf-Jahres-Vertrags der tief gefallenen 49ers anzunehmen?

San Francisco hatte sich schon einmal höchst erfolgreich beim benachbarten College bedient, und zwar durch Bill Walsh, dem Gründervater der Dynastie in den 80er-Jahren. Auch diesmal sollten die Kalifornier ihr Engagement eines Stanford-Coaches nicht bereuen.

Bei John brauchte gut Ding Weil

Johns Werdegang entspricht so ziemlich dem kompletten Gegenteil. Eine NFL-Karriere? Fehlanzeige. Nur zwei Lehrjahre vor dem ersten Head-Coach-Job? Fehlanzeige.

Wie die meisten Coaches lernte er sein Handwerk mühselig von der Pike auf. Nach dem Ende seiner College-Karriere als Defensive Back heuerte er 1984 22-jährig im Trainerstab seines Vaters an der Western Michigan University an. Wanderjahre als Assistenz-Coach auf Uni-Level folgten, ehe ihn 1998 der Ruf der NFL ereilte.

Immerhin zehn Jahre lang sollte er den Philadelphia Eagles die Treue halten. Neun Jahre zeichnete er für die Special Teams verantwortlich, im zehnten übernahm er auf eigenen Wunsch die Defensive Backs, weil er sich so größere Chancen auf eine Beförderung ausrechnete.

Diese Taktik ging auf, dennoch überraschte es die NFL-Szene, dass die Baltimore Ravens John 2008 mit dem ersten Head-Coach-Job seines Lebens ausstatteten, ohne zuvor jemals als Coordinator für eine Defense oder Offense verantwortlich gewesen zu sein.

Der Erfolg gibt den Entscheidungsträgern der Franchise aus Maryland Recht. In allen fünf Saisonen als Ravens-Boss dirigierte er sein Team in die Playoffs, nun erstmals in die Super Bowl.

Funkstille statt heißer Draht

So unterschiedlich ihr Lebenslauf sein mag, so sehr ähneln sie sich in ihrer Herangehensweise an ihren Beruf. Beide gelten als Players Coaches, die ihre Autorität in der Kabine keinen Schimpftiraden, sondern ihrer Fachkenntnis verdanken. Beide sind hervorragende Strategen, beide haben ein gutes Auge für Talente, beide haben ein untrügliches Gespür für Situationen. Und beiden kann man den notwendigen Mut nicht absprechen.

Wie Jim seinen durchaus erfolgreichen Quarterback Alex Smith zu Gunsten des unglaublich talentierten, aber völlig unerfahrenen Youngsters Colin Kaepernick zu benchen, muss man sich erst einmal trauen.

Fluch und Segen ist der aktuelle Hype auch für die übrigen Mitglieder des Harbaugh-Clans. Papa Jack hat seinen beiden Söhnen mit seiner jahrzehntelangen Coaching-Karriere auf College-Level das Trainer-Gen quasi in die Wiege gelegt. Mama Jackie schupfte indes das Leben abseits des Spielfelds.

In dieser Zeit erfuhren der heute 50-jährige John und der 49-jährige Jim (die beiden sind nur 15 Monate auseinander) auch, welche Entbehrungen bei allem potenziellen Ruhm mit diesem Job verbunden sein können.

„Das Rückgrat unserer Familie ist Jackie, darüber gibt es keine Diskussion. In meiner 43-jährigen Coaching-Karriere sind wir 17 Mal umgezogen. Sie hat all die mühsamen Dinge erledigt. Sie hat jeweils das alte Haus verkauft und das neue gekauft. Sie hat die Kinder zur Schule gefahren und wieder abgeholt. Sie verdient all das Lob“, huldigt Jack seiner Gattin, mit der er seit 51 Jahren verheiratet ist.

„John aus Baltimore“

Neben John und Jim ist Tochter Joani – sie ist mit Tom Crean, dem Coach der Basketball-Mannschaft der University of Indiana, verheiratet - das dritte Kind der Senior-Harbaughs.

Sie „rettete“ ihre Eltern in der vergangenen Woche in einer Szene, die seither auf diversen Social-Media-Kanälen ein Dauerbrenner ist.

Jim wurde 1987 in der ersten Runde von den Chicago Bears gedraftet und legte eine 15-jährige NFL-Karriere hin, die ihn zudem als Peyton Mannings unmittelbaren Vorgänger nach Indianapolis, nach Baltimore, San Diego und Carolina führen sollte.

Man könnte ihn als den typischen Durchschnitts-Spielmacher beschreiben. Bei weitem nicht gut genug, um in die Riege der Superstars aufzusteigen. Aber viel zu gut, um nicht doch irgendwo einen Job als Starter zu landen. 1996 war er mit den Colts nur einen Sieg von der Super Bowl entfernt, verlor jedoch das AFC-Finale gegen Pittsburgh.

Atemberaubendes Tempo der Coaching-Karriere

Nach dem Ende seiner aktiven Karriere im Jahr 2001 forcierte er seine Coaching-Laufbahn in geradezu atemberaubendem Tempo. Nach zwei Jahren im Trainerstab der Oakland Raiders durfte er sich bereits Head Coach schimpfen, wenngleich „nur“ an der weniger bedeutenden University of San Diego. Dort leistete er jedoch hervorragende Arbeit, entwickelte neben zahlreichen Siegen mit Josh Johnson auch einen Quarterback, der es sogar in die NFL (Tampa Bay) schaffen sollte.

Größere Programme wurden auf ihn aufmerksam, unter anderem die Stanford University, wo Papa Jack Anfang der 80er als Defensive Coordinator fungierte und deren Football-Abteilung schon bessere Zeiten erlebt hatte. Nur eines von zwölf Saison-Spielen konnte 2006 gewonnen werden, ehe Harbaugh das Ruder übernahm.

Die Moral der Geschichte ist bekannt. Jim führte die Cardinals zurück zu altem Glanz, in seiner Abschieds-Saison 2010 ging nur ein Spiel verloren, dafür wurde die Orange Bowl gewonnen. So nebenbei förderte er mit einem gewissen Andrew Luck die heißeste Spielmacher-Aktie des ganzen Landes.

John wiederum feuerte während dieser Saison Offensive Coordinator Cam Cameron und ersetzte ihn durch Jim Caldwell (als Head Coach 2010 mit Indianapolis in der Super Bowl). Eine ungewöhnliche Aktion, dies mitten im laufenden Wettbewerb zu tun. Aber selbst Cameron spricht inzwischen von einem „brillanten Move“.

Für gewöhnlich haben John und Jim einen heißen Draht zueinander, tauschen durchaus auch ihre Meinungen und Erkenntnisse über jeweilige Kontrahenten aus. In der Woche nach dem Super-Bowl-Einzug herrschte indes Funkstille. Einige SMS waren das höchste der Kontakt-Gefühle, ehe man sich in New Orleans im Vorfeld der Partie zwangsläufig über den Weg laufen wird. Die gemeinsame Pressekonferenz am Freitag könnte ein Highlight der Super-Bowl-Woche werden.

Mama Jackie: „Kann die NFL für ein Unentschieden sorgen?“

Auch Jack, Jackie, Joani und diverse weitere Mitglieder des stolzen Harbaugh-Clans werden im Superdome anwesend sein und beobachten, ob es einem der beiden Brüder, die sich naturgemäß in- und auswendig kennen, gelingt, den anderen auszutricksen.

Da diesmal ein klein wenig mehr auf dem Spiel steht, als früher bei brüderlichen Wettkämpfen im Hinterhof, betonen alle Familienmitglieder, streng neutral zu sein. Selbst die Kleiderordnung soll keine Aufschlüsse über etwaige Sympathien geben. „Ich werde schwarz tragen“, kündigt Joani an.

„Ich weiß, dass einer von beiden gewinnen und der andere verlieren wird. Ich hätte wirklich gerne, dass es Unentschieden endet. Kann die NFL dafür sorgen?“, grinst Jackie.

Nicht nur Mama Harbaugh weiß, dass einer ihrer Söhne die schlimmsten Stunden seiner Laufbahn erleben wird, während zeitgleich der andere im siebten Himmel schwebt.

Who’s got it better than us? Nobody!

Seit der im Nachhinein verhältnismäßig unbedeutenden „Generalprobe“ im Vorjahr wissen die Harbaughs, was auf sie zukommt und was nach dem Spiel zu tun sein wird. Damals siegten Johns Ravens 16:6.

Papa Jack erinnert sich: „Ich erinnere mich, dass wir danach in die Kabinen gegangen sind. Bei den Ravens herrschte ekstatische Stimmung, die Spieler sind herumgesprungen und John hatte ein Siegerlächeln im Gesicht. Ich dachte mir, hier werden wir nicht gebraucht. Also ging ich rüber in die 49ers-Kabine. Dort war es extrem still und gedämpft. Dann sah ich Jim, wie er mutterseelenallein dasaß und seinen Kopf auf die Hand stützte. Wir wussten, dass das der Ort ist, wo wir gebraucht werden.“

Der Verlierer wird elterlichen Zuspruch definitiv dringend notwendig haben. Mit dem nötigen Abstand wird aber wohl auch dem Loser bewusst, was seine Familie da vollbracht hat. Auseinanderdividieren werden sich die Harbaughs bei allem Ehrgeiz ohnehin nicht lassen.

Irgendwie passt Jims von Papa Jack inspirierter und zur 49ers-Legende gewordener Leitspruch aktuell perfekt zur „First Family“:

„Who’s got it better than us?“ Richtig: „Nobody!“


Peter Altmann