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Der Riese und die Angst

Der Riese und die Angst

Royce White ist ein Hüne. 2,03 Meter groß, 118 Kilogramm schwer, Tattoos ziehen sich von seinen breiten Schultern über den mächtigen Bizeps bis zu seinen Unterarmen, die in riesigen Händen münden, in denen ein Basketball eher wie ein Handball wirkt.

Gut vorstellbar, dass so manches Großmütterchen sicherheitshalber die Straßenseite wechselt, wenn er ihm in der Dämmerung entgegenkommt.

Der Eindruck täuscht

Doch der erste Eindruck täuscht. Der Basketballer ist keiner der harten Typen, die vorgeben, dass ihnen nichts etwas anhaben kann. Er ist keiner der NBA-Millionäre, die so gerne eine Gangster-Attitüde an den Tag legen. Er passt irgendwie so gar nicht in diese toughe Sportwelt der Riesen-Egos mit noch größerem Selbstvertrauen, das oft eher Selbstgefälligkeit ist. Aber er bereichert diese Sportwelt.

Denn White sitzt regelmäßig in der Öffentlichkeit und sagt, dass er Angst hat. Vor den großen und kleinen Dingen des Lebens. Manches rational begründbar, manches aber nicht. Der 21-Jährige hat Angststörungen, eine psychische Krankheit. Und er geht ungewöhnlich offen damit um.

Ein riskantes Spiel

Nein, er ist nicht der erste US-Sportler, der Probleme dieser Art thematisiert. Auch die Footballer Ricky Williams und Brandon Marshall sowie der Baseballer Zack Greinke gingen an die Medien. Doch Whites Fall ist anders. Denn er riskierte mit seiner Offenheit seine Karriere, bevor diese überhaupt richtig begonnen hatte.

Schon vor dem Draft 2012 sorgten seine Angststörungen für jede Menge Schlagzeilen. Ihn zu verpflichten, sei ein großes Risiko, war vielerorts zu lesen. „Ich weiß, dass das meinen Status beeinträchtigen wird. Es müssen nur 30 General Manager sagen: ‚Ich weiß nicht genug darüber, um das Risiko zu nehmen.‘ Und dann bleibe ich über“, sagte der Forward.

Die Rockets aber waren gewillt, sich darauf einzulassen, drafteten ihn in der ersten Runde als 16. Pick. Beim ersten Trainingscamp fehlte White dann jedoch ebenso wie beim ersten großen Medien-Tag. Ungewöhnlich für einen Rookie. „Persönliche Gründe“, richtete ein Klub-Sprecher aus.

Der Bus als zweites Zuhause

Der Neuzugang ging damit offener um. Bevor er seine sportliche Laufbahn in Houston beginne, wolle er die Erlaubnis des Teams, mit dem Bus zu einigen Auswärtsspielen zu reisen. Schon zuvor machte das Gerücht die Runde, er habe panische Flugangst.

Wie White erklärt, ist das aber nur die halbe Wahrheit: „Es stimmt schon, dass ich nicht gerne fliege, aber es ist nicht so, dass ich nicht fliegen kann. Ich kriege keine Panik-Attacken im Flugzeug. Das Problem ist mehr die Vorbereitung auf einen Flug.“

Bei Iowa State war er der überragende Akteur

Und da wäre auch noch seine Wohnung. Aufgrund seines neuen Status als Profi-Sportler ist sein neues Heim größer, als er es gewohnt ist. „Es ist hart für mich, wenn ich Räume betrete, die ich nicht so oft benutze. Ich sehe den Staub, der sich angesammelt hat und muss oft eine halbe Stunde lang saugen. Das kannte ich vorher nicht.“

Nicht neu ist hingegen, dass er ständig Ordnung schafft. „Meine DVDs sind in alphabetischer Reihenfolge geordnet, mein Kleiderschrank nach Farben sortiert, meine Schuhe stehen perfekt da. Eines der Dinge, mit denen Menschen mit Angststörungen zurechtkommen müssen, ist, dass sie ständig in Bewegung sind. Die Gedanken rasen die ganze Zeit von einem Thema zum nächsten.“

„Meine Gedanken sind sehr kreativ und laufen etwas anders ab. Ich kann gleichzeitig über zwei verschiedene Dinge nachdenken“, versucht White zu erklären, wie sein Kopf arbeitet.

Zwei Schlüsselerlebnisse

Wenn er über den Anfang seiner Ängste spricht, erzählt der NBA-Profi von zwei Schlüsselerlebnissen in seiner Kindheit. Als er sieben Jahre alt war, bedrohte ein Ex-Freund seiner Mutter den Jungen und seine vormalige Lebensgefährtin. Die beiden hatten oft Angst, er würde ihnen vor ihrem Appartement auflauern.

Als White zehn Jahre alt war, folgte ein weiteres traumatisches Erlebnis. Gemeinsam mit seinem besten Freund LaDream Yarbrough absolvierte er nach einem Basketball-Training Linien-Sprints. Plötzlich kollabierte Yarbrough und blieb leblos liegen. Im Krankenhaus wurde ein angeborener Herzfehler festgestellt, der Junge überlebte. Doch White dachte mehrere Stunden, er hätte seinen besten Freund sterben gesehen. Jahrelang konnte er aus Angst, ihm würde womöglich Ähnliches widerfahren, keine Linien-Sprints mehr absolvieren.

Aber auch das ist nicht der vorrangige Grund für seine Forderung. „Für Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist eine der wichtigsten Sachen, dass sie Kontinuität und Routine in ihrem Leben haben. Ich will, dass sich dieser Bus wie mein Zuhause anfühlt, damit ich in diesem Job, der aufgrund des Spielplans offensichtlich inkonstant ist, eine gewisse Kontinuität habe. Ich will sichergehen, dass der Stress-Level niedrig bleibt“, sagt der Forward.

Die Rockets werden dem Wunsch ihres Spielers nachkommen. „Wir sind von seinem langfristigen Erfolg überzeugt und werden ihn unterstützen“, so der Klub in einer Aussendung.

Die Aufregung der vergangenen Tage rund um seine Forderung versteht der 21-Jährige überhaupt nicht: „Wenn sich jemand das Bein bricht, bekommt er Krücken. Und auch wenn eine mentale Erkrankung anders aussieht, unterscheidet sie sich in der Theorie nicht wirklich davon.“

Schlaflose Nächte und staubige Zimmer

Eine weitere Herausforderung, vor der White durch seine Angststörungen gestellt wird, sind schlaflose Nächte. „Ich bekomme immer wenig Schlaf“, berichtet er. Jede Nacht wacht der US-Amerikaner mindestens drei bis vier Mal auf. Oft telefoniert er dann mit seiner Mutter, um seine Gedanken zu ordnen.

"Mein Leben sollte so einfach wie möglich sein"

Noch heute erklärt White, der ein Tattoo von Frank Sinatra und einen Vollbart wegen seines Idols John Lennon trägt: „Wenn ich zwischen Basketball und Musik wählen müsste, bin ich mir nicht sicher, ob es Basketball wäre. Musik ist effektiver, sie hilft viel mehr Menschen.“

Ein Guard im Körper eines Forwards

Nichtsdestoweniger bewegte ihn Iowa-Coach Fred Hoiberg, früher Spieler der Pacers, Bulls und Timberwolves, dazu, seine Sportlerkarriere wieder in Schwung zu bringen. Es sollte sich auszahlen.

Denn White avancierte in seiner einzigen Saison als College-Spieler zum absoluten Superstar seines Teams, führte es in den Statistiken für Punkte, Rebounds, Assists, Steals und Blocks an. Keinem anderen in den Staaten gelang dieses Kunststück in der abgelaufenen Saison.

„Er ist ein einzigartiger Spieler. Ein 2,03-Meter-Typ, der wie ein Point Guard spielt aber mit dem Rücken zum Korb punkten kann“, schwärmt Iowas Assistant-Coach Matt Abdelmassih. Tyshawn Taylor, den die Nets in diesem Sommer gedraftet haben, sagt: „Er ist ein Guard mt dem Körper eines Power Forwards. Als wir das erste Mal gegen ihn gespielt haben, waren wir geschockt.“

"Ich habe diesen Pfad gewählt"

Noch muss White seine Fähigkeiten in der NBA aber erst unter Beweis stellen. Bis dato galten die Schlagzeilen nämlich seiner Offenheit bezüglich seiner Angststörungen. „Es ist irgendwie verrückt. Ich denke, ich habe deswegen mehr Fans, als wegen des Basketballs, den ich spiele“, meint er.

Sein Gang an die Öffentlichkeit war bewusst. Der Sportler wollte das Thema psychische Erkrankungen in die Öffentlichkeit bringen, um anderen Betroffenen damit zu helfen.

„Vielleicht sollte ich all die Dinge, die ich tue, nicht tun. Mein Leben sollte so einfach wie möglich sein. Aber ich habe diesen Pfad gewählt und ich werde einen Weg finden, um damit umzugehen.“

Eine Entscheidung, die mutiger ist, als die meisten der knallharten, eiskalt wirkenden NBA-Stars, mit denen er es aufnehmen wird.


Harald Prantl

In der Highschool wurde schließlich seine psychische Erkrankung diagnostiziert und entsprechend behandelt. Nicht zuletzt dort stellte der junge Mann aus Minneapolis, Minnesota auch fest, wobei sich seine rasenden Gedanken am besten verflüchtigen – beim Basketball.

Und diesen Sport beherrschte er dermaßen gut, dass er schon bald als eines der größten Talente des Landes gehandelt wurde. Doch das Leben hatte noch einige Hürden aufgestellt, die es zu überwinden galt, ehe der große Traum NBA Realität wurde.

Probleme am College

Für die University of Minnesota spielte White nämlich kein einziges Mal. Zuerst stand er vor Gericht, weil er in einer Shopping-Mall zwei T-Shirts gestohlen und anschließend einen Sicherheitsbeamten angegriffen hatte, danach wurde ihm vorgeworfen, aus dem Studentenwohnheim einen Laptop entwendet zu haben.

Letzteres bestreitet er bis heute vehement. Kurz darauf gab White bekannt, das College zu verlassen. Er fühle sich von der Campus-Polizei verfolgt, habe Angst, gab er zu Protokoll. „Er macht auf mich nicht den Eindruck einer ängstlichen Person“, sagte Greg Hestness, das Oberhaupt der Campus-Polizei damals.

Musik statt Sport

An der Iowa State setzte White sein Studium fort. An Basketball war nicht zu denken, da er aufgrund des Uni-Wechsels ein Jahr lang gesperrt war. Und Lust aufs Körbewerfen hatte er auch keine. Vielmehr entdeckte er eine neue Leidenschaft – die Musik.

Wochenlang hing er mit Freunden in einem Tonstudio herum und brachte sich währenddessen selbst Klavierspielen bei. „Das war eine der besten Zeiten meines Lebens. Es hatte eine therapeutische Wirkung“, blickt er zurück.