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Pioniere des modernen Fußballs

Pioniere des modernen Fußballs

Denkt man an die großen Nationen in der Geschichte des Fußballs, so fallen einem sofort Länder, wie England, Brasilien, Deutschland oder Italien ein.

Die Ukraine hat dabei niemand auf der Rechnung. Dabei wurden im ehemaligen Teilstaat der Sowjetunion die Grundsteine für den modernen Fußball gelegt.

Die Verengung des Spielfelds, Raumdeckung, wissenschaftliche Methoden im Training und detailliert ausgearbeitete Spielpläne – all das, was die heutige Arbeit eines Trainers ausmacht, proklamierten Viktor Maslov und Valeriy Lobanovskyi Jahrzehnte im Vorhinein. Die beiden großen Trainerpersönlichkeiten Dynamo Kiews waren jenseits des Eisernen Vorhangs ihrer Zeit voraus.

Erfinder des modernen Fußballs

Im Westen wurde die ballorientierte Raumdeckung von Arrigo Sacchi und dessen großer Milan-Mannschaft Ende der 1980er-Jahre etabliert (siehe Geschichte der Fußball-Taktik). 

In Österreich dauerte es gar bis in die 2000er-Jahre, ehe Viererkette und Co. die altmodische Manndeckung ablösten (siehe Taktik-Nachzügler Österreich).

Bei Dynamo Kiew dagegen ließ Maslov bereits in den 1960er-Jahren im Raum verteidigen. Nicht umsonst schreibt der englische Fußball-Journalist Jonathan Wilson in seinem Standardwerk „Inverting the Pyramid“: „Wenn ein einzelner Mensch als Erfinder des modernen Fußballs bezeichnet werden kann, dann Viktor Maslov.“

Maslov wurde entlassen und starb nur sieben Jahre später im Alter von 67 Jahren. Seine Ideen erlebten bei Dynamo jedoch noch während seiner Lebenszeit eine Wiederauferstehung.

1973 übernahm Valeriy Lobanovskyi das Traineramt in Kiew. Es sollte der Beginn einer der größten Klub-Trainer-Beziehungen der Geschichte werden. Zwischen 1973 und 1990, sowie einer zweiten Amtszeit zwischen 1997 und 2002 gewann Lobanovskyi mit dem ukrainischen Traditionsklub 13 Meistertitel (acht in der Sowjetunion, fünf in der Ukrainie) und neun Pokalsiege (sechs in der Sowjetunion, drei in der Ukraine) sowie zwei Mal den Cup der Cup-Sieger.

Mit der sowjetischen Nationalmannschaft wurde er 1988 Vize-Europameister. Sein letzter großer Erfolg war der Einzug ins Halbfinale der Champions League, wo er mit Shevchenko und Co. 1999 an den Bayern scheiterte.

Der 1910 in Moskau geborene Coach führte den Traditionsklub zu drei sowjetischen Meisterschaften (1966, 1967 und 1968). Maslov, den seine Spieler „Großvater“ nannten, war der erste Verfechter des 4-4-2. Manndeckung sah er für jene, die sie ausüben mussten, als „demütigend und beleidigend“ an. Sein Team verteidigte mit Pressing.

„Sie jagten in Rudeln, machten die Räume eng und ergriffen so in ungeahnten Teilen des Spielfelds die Initiative“, beschreibt Wilson die Spielweise Dynamos. Kaum ein Gegner hatte gegen diese offensive Verteidigung eine Chance. So kassierten die Kiewer beim Titelgewinn 1967 in 36 Spielen nur unglaubliche elf Treffer.

Lobanovskyi entwickelt Maslovs Ideen weiter

1970 war die Zeit des Russen bei Dynamo um. Weil er zahlreiche Spieler für die Weltmeisterschaft in Mexiko abstellen musste, belegten seine Kiewer in der parallel weiterlaufenden sowjetischen Liga nur Platz sieben.

Menschliche Schwierigkeiten

Lobanovskyi erlebte die Methoden Maslovs am eigenen Leib. Der eigensinnige Stürmer kam jedoch menschlich mit dem ansonsten beliebten „Großvater“ nicht zurecht.

„Meine Beziehung zu Maslov war nicht gut, aber das ist nicht wichtig. Er war ein großer Taktiker, der seinen Spielern lehrte, wie man Fußball spielt“, äußert sich Lobanovskyi, der seinen Stammklub Dynamo nach Maslovs erster Saison in Kiew 1964 verließ.

Trotz aller Differenzen verfolgte der aufstrebende Jung-Trainer die gleiche Fußball-Philosophie, wie sein Vorgänger. Mit einem Unterschied: „Maslov arbeitete mit Instinkten und seinem Gefühl, Lobanovskyi wollte Beweise“, hält Buchautor Wilson fest.

Fußball und Wissenschaft zusammengeführt

Der talentierte Mathematiker fand einen höchst wissenschaftlichen Zugang zum Spiel: Er sah Fußball als ein System aus 22 Elementen. „Lobanovskyi kam zur Erkenntnis, dass es beim Fußball weniger um Individuen gehe, sondern mehr um die Koalitionen und Beziehungen zwischen ihnen“, schreibt Wilson.

Darausfolgend zerlegte der Fußball-Pionier das Spiel in seine Einzelteile. Er überließ nichts dem Zufall: Jede Partie wurde statistisch ausgewertet. Schwächen einzelner Spieler konnten damit schonungslos aufgedeckt und individuell trainiert werden.

Zudem wurden Spielzüge eingeübt und jeder Spieler erhielt auf den nächsten Gegner bezogene spezifische taktische Anweisungen. Lobanovskyi erarbeitete für jede Partie einen eigenen Matchplan. So spielte Dynamo auswärts zumeist auf ein Unentschieden und im Gegenzug daheim offensiver.

Pionier der Professionalisierung

Sein Trainerteam bestand aus drei Personen: Ein Sportwissenschaftler kümmerte sich um die physische Verfassung der Spieler. Ein Co-Trainer beschäftigte sich mit statistischen Daten und der Gegneranalyse, der andere kümmert sich um das tatsächliche Coaching. Lobanovskyi selbst war für die Spielweise und taktische Einstellung der Mannschaft verantwortlich.

Jene oft zitierte Professionalisierung, die mit Marcel Koller im ÖFB-Team Einzug gehalten hat, machte Lobanovskyi damit schon in den 1970er-Jahren vor.

Auch die zentralen Gedanken hinter der Fußballauffassung des ukrainischen Nationalhelden waren richtungsweisend. Bei eigenem Ballbesitz sollte das Spielfeld so groß wie möglich gemacht werden, bei gegnerischem Ballbesitz so klein wie möglich. Zudem strebte er für seine Spieler Universalität an: Stürmer sollten verteidigen, Abwehrspieler angreifen.

Ideen noch heute essentiell

Ralf Rangnick, Vorreiter moderner Trainingsarbeit in Deutschland, bezeichnet ein Spiel gegen Lobanovskyis Dynamo Kiew aus dem Jahr 1984 als prägendstes seiner Karriere. „Sie spielten so starkes Pressing und nutzten so geschickt die Weite des Feldes, dass ich annahm, sie hätten mindestens zwei Spieler mehr auf dem Platz“, erzählt der momentan aufgrund eines Burnouts pausierende Coach in einem Interview mit dem Magazin „11 Freunde“.

Lobanovskyi verstarb 2002 an den Folgen eines Schlaganfalls. Seine Innovationen und Ideen leben jedoch genauso wie jene seines ungeliebten Idols Maslov bis heute weiter.

Nicht umsonst meint Italiens Weltmeisertrainer Marcello Lippi: „Heutzutage spielt jedes Team Pressing.“

 

Jakob Faber