LAOLA1: Wie würden Sie die Fortschritte in den knapp zwei Jahren, die sie mit dem ÖFB-Team arbeiten, beschreiben?

Graw: Da fällt mir vor allen Dingen das Wort Identität ein. Es ist eine große Kraft, wenn wir uns mit einer Tätigkeit und einer Gemeinschaft wirklich identifizieren können. Dann haben wir ganz andere Ressourcen zur Verfügung, dann gibt es eine ganz andere Dynamik. Das ist für mich eine Hauptentwicklung in diesen zwei Jahren. Sowohl innerhalb des Teams hat sich noch einmal ein höherer Identifikationsgrad entwickelt, als auch außerhalb mit diesem Team. Ich finde beispielsweise die Atmosphäre im Ernst-Happel-Stadion wirklich fantastisch. Das ist einfach toll und macht Spaß. Diesen Spielen fiebert man schon entgegen.

LAOLA1: Zur Arbeit auf individueller Ebene: Marko Arnautovic hat beispielsweise in letzter Zeit kaum Tore erzielt. Das nagt spürbar an ihm. Kann man ihn sich zur Seite nehmen und Strategien entwickeln, damit ihn dieser Umstand weniger belastet?

Graw: Ich rede nicht gerne über einzelne Spieler, aber dieses Thema kann man verallgemeinern: Ja, man kann jeden in Ruhe zur Seite nehmen und an bestimmten Stellen, wo man den Eindruck hat, dass ihn das beschäftigt, das Gespräch suchen und entsprechende mentale Techniken einsetzen, um wieder freier und gelassener werden zu können.

LAOLA1: Wie spielt die Komponente der berühmten „österreichischen Mentalität“ in ihre Arbeit hinein? In Österreich herrscht zu vielen Dingen sicherlich ein anderer Zugang als in Deutschland oder auch in der Schweiz. Muss man darauf Rücksicht nehmen?

Graw: Ganz ehrlich: Für mich gibt es nicht DIE Mentalität. Vielleicht gibt es bestimmte Züge oder Tendenzen. Ich persönlich würde nicht sagen, das ist die Mentalität und die ist ganz anders, als ich sie aus Deutschland kenne. Denn es gibt eben auch eine Sportler-Mentalität, und das ist die Mentalität, mit der wir hier arbeiten. Wir setzen uns Ziele, arbeiten daran, wollen uns verbessern und weiterentwickeln. Ich setze lieber bei dieser Mentalität an. Die nenne ich nicht österreichisch, deutsch, Schweizerisch oder italienisch, sondern eben Sportler-Mentalität.

LAOLA1: Die Mannschaft hat spürbare Fortschritte gemacht. Sind Sie auch von der mentalen Ebene her zuversichtlich für die kommende EM-Qualifikation?

Graw: Ja. Wenn man spezifischer auf die Sportler-Mentalität blickt, kann man auch daran gehen, eine Sieger-Mentalität aufzubauen – und dann wirklich etwas erreichen zu wollen, wirklich Lust darauf zu haben, in der nächsten Qualifikation etwas zu reißen und zu bestehen. Eine Sieger-Mentalität hat etwas mit Zuversicht und Einstellung – in unserem Jargon nennt man das Glaubenssätze – zu tun. Ein einschränkender Glaubenssatz ist zum Beispiel: „Ach, wir Österreicher reißen nichts mehr!“ Wenn es so etwas gäbe, wäre es notwendig es dahingehend zu verändern: „Warum sollen wir nicht auch etwas reißen? Wir haben gute Spieler.“ Dann entwickelt sich eine Sieger-Mentalität.  Wenn sich das dann noch in der Interaktion mit den Fans weiterentwickelt und sich auch dort eine Sieger-Mentalität entwickelt, nach dem Motto: „Wir glauben an unser Team!“, ist eine hohe Dynamik und Energie drinnen. Das kann jede Mannschaft tragen und wird auch jede Mannschaft tragen.

LAOLA1: Wie viel Interaktion besteht eigentlich zwischen den Nationalteam-Lehrgängen? Melden sich die Spieler bei ihnen?

Graw: Das ist unterschiedlich. Da gibt es Wellen – manchmal ist es mehr, manchmal weniger. Aber letztendlich konzentriert es sich natürlich auf die Lehrgänge.

LAOLA1: Wie viel mentale Hilfe braucht der Mentaltrainer, wenn Schweden kurz vor Schluss das 2:1 erzielt?

Graw: Ja, eine gewisse Enttäuschung ist schon dabei. Keine Enttäuschung über die Mannschaft oder Trainer, sondern darüber, dass ein Ziel nicht erreicht wurde. Es ist ja auch wichtig, dass wir eine menschliche Komponente nicht vergessen. Da geht es uns allen so. Ich habe auch zwei, drei Tage gebraucht, um mich von den gesteckten Zielen emotional zu verabschieden, kann inzwischen aber wieder absolut optimistisch nach vorne schauen.

Das Gespräch führte Peter Altmann