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"Finde niemanden verhaltensauffällig"

Fußball ist auch Kopfsache.

Diese Weisheit ist nicht erst nach kläglich verschossenen Elfmetern oder peinlichen Eigentoren bekannt.

„Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem, was ich da am Platz zeige und was sich im Kopf abspielt“, bringt es Thomas Graw auf den Punkt.

Der 46-Jährige arbeitet seit der Bestellung von Marcel Koller als ÖFB-Teampsychologe. Eine Aufgabe, die berufsspezifisch ein Vertrauensverhältnis zu den Spielern voraussetzt.

Keine Problembehandlung

„Ich möchte nicht zu sehr Details über die Nationalmannschaft erzählen“ stellt der Deutsche im Rahmen des Trainingslagers in Seefeld von Beginn an klar und räumt lieber mit einem gängigen Vorurteil auf:

„Wir müssen weg vom Problemdenken. Mentaltraining ist parallel zum körperlichen Training zu sehen. Es geht nicht darum, irgendwelche Probleme wettzumachen, sondern einfach das Niveau eines Spielers einen Tick zu erhöhen.“

Wie das geht, erklärt der studierte Sportpsychologe, der schon beim VfL Bochum mit Koller zusammengearbeitet hat, anhand einer Zugangsweise:

„Im mentalen Training geht es darum, bestimmte Bewegungsabläufe, bestimmte Laufwege und -techniken auch in einer Vorstellung zugänglich zu machen. Visuell zu trainieren, um dort – fachlich ausgedrückt – neuronale Muster anzulegen, die dann im Spiel auch leichter wieder abrufbar und aktivierbar sind.“

Spielerkopf als Festplatte

Um diese wissenschaftlichen Prozesse besser zu illustrieren, bedient sich Graw der Metapher eines Computers:

„Wenn man Bewegungsabläufe verstärkt, dann sind diese leichter abrufbar in den entscheidenden Situationen. Darum geht’s. Dann hat man sie eben auf der Festplatte, wo sie zugänglich sind.“

Eine weitere Technik des Mentalcoachs ist es, Marc Janko, Zlatko Junuzovic und Co. in „leichte Trance-Zustände zu versetzen, um in diesen auch besser an gewisse Grundüberzeugungen und –einstellungen heranzukommen.“

Beobachten, analysieren, beraten

Diese theoretischen Ausführungen stellen sich in der Praxis wie folgt dar: Neben knapp einstündigen Sitzungen mit der gesamten Mannschaft, wie es sie etwa vergangenen Freitag gegeben hat, und den Einzelgesprächen besteht die tägliche Arbeit vorwiegend aus Beobachtungen, weswegen Graw bei keiner Trainingseinheit fehlt.

„Es gibt verschiedene Beobachtungskriterien: Wie sind die Kommunikationsdynamiken? Wer sagt an welcher Stelle was und wie wird das auch aufgenommen? Wie sind die Reaktionen?“, zählt der Spezialist auf und führt weiter aus:

“Es gilt aber auch Körpersprache, Atmosphäre, Dynamik, die herrscht, zu beachten und an welchen Kleinigkeiten man die Schraube ansetzen kann.“

Arnautovic "nicht verhaltensauffällig"

Dass einzelne Spieler, wie etwa Aleksandar Dragovic, das "Schrauben-Anziehen" besonders nötig hätten, dazu will sich Graw nicht äußern:

„Meine Aufgabe ist es nicht, Spieler zu erziehen und irgendwie pädagogisch tätig zu sein“, entgegnet er bezüglich des Basel-Legionärs, der jüngst in der Schweiz für negative Publicity gesorgt hat.

Auf den oftmals lustlos wirkenden „Skandal-Boy“ Arnautovic angesprochen, holt der Wissenschafter weiter aus:

„Ich finde niemanden verhaltensauffällig. Wir haben alle unseren Persönlichkeits-Stil. Meines Erachtens ist das so, dass durch die verschiedenen Facetten ein viel gesamteres Bild zusammenkommt und Beiträge von einzelnen zu einem Gesamtmuster verschmelzen, das uns nach vorne bringt. Und da brauchen wir auch das, was manche Verhaltensauffälligkeit nennen. Ich sehe das einfach als Leistungsressourcen, die zu fördern das Ziel sein soll. Nicht irgendetwas abzuschneiden, abzukappen und gleichzumachen. Da halte ich nichts davon.“

"Absolut leistungsfördernd"

Graw ist ein weiteres Beispiel für die offen zur Schau getragenen Veränderungen beim ÖFB.

Der Mentalcoach ist ein Teil im „Zusammenspiel von Spezialisten“, ein Mitglied in einem Team, „das zusammengekommen ist, um Veränderungen und neue Muster einzuführen und eine neue Dynamik hineinzubringen.“

Sein abschließendes Resümee der Situation im rot-weiß-roten Team lässt die über Jahre enttäuschten Fans hoffen, schließlich sei es ein „Spaß, diese Atmosphäre zu sehen, die ins Team gekommen ist und die absolut leistungsfördernd ist.“

Und Leistungsförderung ist beim aktuell 73. der Weltrangliste dringend gefragt.


Christian Eberle