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FC Carpi - Ein Hauch von Grödig

FC Carpi - Ein Hauch von Grödig

Nein, das ist keiner der üblichen Tippfehler.

Es geht wirklich nicht um die berühmte Felseninsel Capri mit ihren Höhlen im Golf von Neapel, deren Sonne vermeintlich in Plastikbeutel abgefüllt und mit viel Zucker versetzt in heimischen Supermärkten erworben werden kann.

Die Verwechslung sorgte erst vor einiger Zeit für ein Schmunzeln zahlreicher Zeitungsleser, die von einer US-amerikanischen Familie, die in Mailand gelandet ihre Familie in Carpi besuchen wollte, sich bei der Eingabe ins Navi aber geirrt hatte und plötzlich über 600 Kilometer entfernt von ihrem eigentlichen Ziel am Hafen von Neapel gelandet war, lesen durften.

Also nochmal: Carpi! Das ist eine von 70.000 Menschen bewohnte Stadt in der Emilia-Romagna, konkreter in der Provinz Modena. Muss man nicht kennen, dort gibt es nämlich auch nicht wirklich etwas zu bestaunen. Vielleicht abgesehen von einem ganz hübschen Dom und einem jährlich stattfindenden Philosophie-Treffen.

Doch seit dieser Saison hat das unscheinbare Carpi, das sportlich bisher lediglich durch zwei Zielankünfte des Giro d’italia aufgefallen ist, eine neue Attraktion – den Carpi Football Club 1909.

Die Underdogs beißen sich oben fest

Die „Biancorossi“ haben den Fixaufstieg in die Serie A geschafft, wenn nicht alles schiefläuft, sogar als Meister. Und das lässt im calcioverrückten Italien wahrlich keinen kalt. „Es ist extrem überraschend, damit hat wirklich keiner gerechnet“, sagt Robert Gucher. Der Steirer hat es mit Liga-Neuling Frosinone so gut wie sicher in die Aufstiegsplayoffs geschafft und steht aktuell auf dem zweiten Platz, der ebenfalls einen definitiven Startplatz in der höchsten Liga bedeutet, ausrechnen. Dritter ist der FC Bologna, Vierter Vicenza Calcio.

„Und genau das ist es ja. Es geht ja nicht nur um Carpi, sondern auch um Vicenza und uns. Vicenza war eigentlich in der dritten Liga, ist per Losglück als letzte Mannschaft aufgestiegen. Dass diese drei Teams da vorne um den Aufstieg mitspielen, ist für das ganze Land eine Überraschung“, so Gucher.

Und das gefällt freilich nicht jedem. Mit Chievo Verona, dem AC Siena und seit Sommer 2013 Sassuolo Calcio sind den Tifosi unbekannte Kleinvereine in der Serie A seit einigen Jahren nicht mehr fremd. So wirklich anfreunden können sie sich aber nur bedingt mit ihnen.

Lotito und die "Scheiß-Vereine"

Dementsprechend war das Trara zwar groß, die ehrliche Überraschung hielt sich aber in Grenzen, als Anfang Februar „Lotitogate“ ausbrach. Pino Iodice, der Manager des Drittligisten SS Ischia Isolaverde, hatte ein Telefonat mit Lazio-Boss Claudio Lotito mitgeschnitten und die Tonaufnahme an die renommierte Tageszeitung „La Repubblica“ weitergegeben.

In your face, Lotito

Gucher berichtet vom vergangenen Wochenende, als sein Frosinone das Co-Sensationsteam aus Carpi empfangen hat: „Lotitos Aussagen waren das Thema Nummer eins auf den beiden Fantribünen. Wir Spieler wollen aber nicht wegen Lotito, sondern wegen uns aufsteigen. Bei Carpi verhält es sich sicher nicht anders.“

Im Ballungsraum der Tradition

Ob denn Carpi so etwas wie der SV Grödig Italiens sei? „Jein. Es kommen dort sicher mehr Fans als in Grödig, aber vom Dorf bzw. der Stadt her ist das schon vergleichbar. Die Stadt Carpi hat keine Geschichte, auch der Verein ist unbekannt“, sagt Gucher.

Zumal die „Biancorossi“ nicht wie Grödig mit RB Salzburg nur einen, sondern gleich eine Vielzahl prominenter Nachbarn haben. Innerhalb von rund 100 Kilometern, in deren Mitte Carpi liegt, sind der FC Parma, der FC Bologna, die AC Reggiana, der FC Modena und US Sassuolo beheimatet.

Viele, viele Spielzeiten in den beiden höchsten Ligen haben diese Vereine schon hinter sich gebracht. „Aber Carpi hat es geschafft, ihnen das Rampenlicht zu stehlen“, hält Gucher fest.

Heiterkeit im Niemandsland

Wie es die Zahl 1909 im Vereinsnamen verrät, hat der FC Carpi jedoch ebenfalls eine lange Geschichte. Es fehlen aber die Höhepunkte. Von einem Studenten names Adolfo Fanconi als „Jucunditas“, das lateinische Wort für Heiterkeit, gegründet, benannte sich der Klub 1915 in AC Carpi um.

Bis 1922 spielte das Team in einer der höchsten Spielklassen, fortan fristete er aber ein Schattendasein in den Niederungen des Calcio. Erst 1997 durften die Carpigiani erstmals von der großen Fußballwelt träumen, als sie Trainer Luigi De Canio, der es anschließend an den Seitenlinien von Udinese, Napoli, Genoa und den Queens Park Rangers zu Semiprominenz brachte, in die Aufstiegsplayoffs der Serie C1 führte. Doch es folgte das Scheitern.

Der streitbare Lotito berichtete in diesem Telefonat von einem Gespräch mit dem Serie-B-Vorsitzenden. Der Inhalt war brisant und entlarvend.

„Wir müssen schnell etwas ändern. Parma geht runter und du schickst mir Klubs wie Carpi, Frosinone oder Latina hoch in die erste Liga? Einer davon wäre okay, aber zwei, die einen Scheiß wert sind? Ich habe mit meinem Geschick 1,2 Milliarden Euro für die TV-Rechte herausgeholt. Wer zahlt das noch in drei Jahren mit Carpi oder Frosinone? Die Sender wissen doch gar nicht, dass es diese Scheiß-Vereine überhaupt gibt“, polterte der Lazio-Chef.

"Je suis Carpi!"

Am Wochenende darauf rollte eine Welle der Solidarität durch das Land. Natürlich nicht von den anderen Serie-A-Klubs – lediglich Juventus und Fiorentina hatten es gewagt, öffentlich zu protestieren –, sondern von unzähligen kleinen Vereinen. „Je suis Carpi!“, war auf T-Shirts und Transparenten zu lesen.

Auch Carpi reagierte mit einer öffentlichen Stellungnahme: „Möglicherweise ist es wahr, dass einige Menschen ‚nicht einmal wissen, dass Carpi existiert‘. Aber ob es euch gefällt oder nicht, wir existieren.“

Trainer Castori - aus der Ukraine geflohen

Halb so schlimm, war das der Klub doch aus den vielen Jahrzehnten der Erfolglosigkeit gewohnt. Was 2000 folgte, ging den wenigen Anhängern des Vereins dann jedoch durch Mark und Bein. Der AC Carpi wurde für bankrott erklärt. Aus, Schluss, vorbei. Möchte man meinen.

Die Pleite als Geburtsstunde des Märchens

In Wahrheit war die Pleite jedoch die Geburtsstunde eines der größten Fußballmärchen, die Italien jemals erlebt hat. Der Verein Carpi Calcio und der Klub Dorando Pietri schlossen sich zum noch heute existierenden Carpi Football Club 1909 zusammen und fingen in der zweiten Spielklasse der Eccellenza Emilia-Romagna an – auf einem fußballerischen Niveau, das sich nur noch gelangweilte Pensionisten und Familienangehörige der Spieler zu Gemüte führen.

Vor einigen Jahren begann ein gewisser Stefano Bonacini damit, ein wenig seines Geldes in den Klub zu stecken. Der Mann ist italienischer Modemacher („Gaudi“) und stammt aus Carpi, das für seine Textilindustrie bekannt ist. Wobei das nur 20 Kilometer südlich gelegene Modena dem kleinen Carpi mit dem Maserati- und dem ein wenig südlicher angesiedelten Ferrari-Werk wirtschaftlich freilich ganz klar die Show stiehlt.

Nicht zuletzt dank Bonacinis Hilfe gelang Carpi jedenfalls der Durchmarsch bis in die Serie B, der die „Biancorossi“ nun in der zweiten Saison angehören. Wobei die finanzielle Hilfe in Relation gesetzt werden muss. Der FC Carpi wäre selbst in der österreichischen Bundesliga alles andere als ein Big Player.

Die verrückte Investition von 26.000 Euro

„Ich habe gelesen, dass Philippe Mexes beim AC Milan mehr verdient, als die gesamte Mannschaft von Carpi“, schmunzelt Gucher. Konkrete Zahlen sind in der Bilanz der Saison 2012/13 zu lesen, als das Budget knapp über vier Millionen Euro betrug. Der Klub machte in dieser Saison einen Verlust von 516 Euro – nein, da fehlen keine Nullen.

Trainer Fabrizio Castori versicherte unlängst: „Das Budget ist in dieser Saison aber gekürzt worden, es ist weniger als drei Millionen Euro.“ Auch die Kommunikationswege erinnern mehr an einen Dorf-Klub als an einen der Serie-A-Vereine, bei denen man ohne Organigramme ob der unzähligen Direktoren und Vorsitzenden leicht den Überblick verliert.

"Wir haben für Pasciuti 26.000 Euro ausgegeben, all unsere Ersparnisse"

„Die Entscheidungsfindung funktioniert so: Ich spreche direkt mit Präsident Claudio Caliumi und der ‚Gaudi Gruppe‘, die von Stefano Bonacini und Roberto Marani vertreten wird. Und dann spreche ich mit dem Trainer. Das war’s“, sagt Sportdirektor Christian Giuntoli gegenüber „Goal“.

Er hat auch eine Anekdote zur Verpflichtung von Lorenzo Pasciuti im Jahr 2009 parat, die die finanziellen Verhältnisse verdeutlicht: „Wir haben 26.000 Euro ausgegeben, all unsere Ersparnisse. Diese Investition war verrückt, aber letztendlich hat sie sich ausgezahlt.“

Pasciuti hat den Durchmarsch mitgemacht und in jeder Liga zumindest einen Treffer erzielt. Ungefähr so (un)bekannt wie der 25-Jährige ist auch der Rest der Truppe. „Der Kader besteht zwar aus No-Names, aber er ist sehr gut zusammengestellt“, sagt Gucher.

Als die Ukraine-Krise Carpi half

Dass die Mannschaft funktioniert, ist zu großen Teilen der Verdienst von Trainer Castori, der im Juli 2014 nach Carpi gekommen ist. Der 60-Jährige ist ein alter Hase, der sich sein Trainerleben lang viel herumgetrieben hat. Bei 20 verschiedenen Klubs stand er an der Seitenlinie, nie höher als in der zweiten Liga. Zudem erlangte er 2004 zweifelhafte Berühmtheit, als er als Cesena-Betreuer wegen einer Schlägerei auf dem Spielfeld für ursprünglich drei Jahre gesperrt wurde.

Dass er überhaupt nach Carpi gekommen ist, hatte mit der Weltpolitik, die vom beschaulichen Städtchen in der Emilia-Romagna doch so weit entfernt scheint, zu tun. Castori hatte schon einen Vertrag bei Metalurg Donezk in der Tasche, war sogar drei Tage lang in der Ukraine, als sich die Krise im Februar 2014 verschärfte und er lieber sofort das Weite suchte.

Zum Wohle seiner Sicherheit hatte Castori auf einen Sack voll Geld verzichtet. Dafür darf er nun einem Wunder beiwohnen. Ein anderes hat der Trainer zu Beginn seiner Karriere fast verpasst – das Wunder von Castel di Sangro (in den Buch-Tipps nachzulesen). Der Dorfverein in den Abruzzen hatte es 1996 sensationell in die Serie B geschafft. Als Castori 1999 dort Trainer wurde, war der Klub aber schon wieder mitten im Fall zurück ins fußballerische Niemandsland begriffen.

Das Stadio Sandro Cabassi - kein Schmuckkästchen

Das untaugliche Stadion

Ein kleines Problem haben sie in Carpi aber – das Stadio Sandro Cabassi, in der Via Carlo Marx benannt nach einem Widerstandskämpfer gegen Benito Mussolini. Selbst für italienische Verhältnisse, wo - bis auf wenige Ausnahmen -, seit der WM 1990 kein Finger mehr gerührt wurde, was infrastrukturelle Verbesserungen betrifft, ist es überaus unattraktiv.

„Es ist ein sehr kleines Stadion mit einer Laufbahn rundherum. Die Kurve ist ziemlich weit weg vom Spielfeld“, beschreibt Gucher die Spielstätte. Immerhin kämen in der jüngeren Vergangenheit mehr Fans: „In den letzten Runden war das Stadion jedesmal schon zu Wochenbeginn ausverkauft. Auswärts sind auch rund 500 Leute mit.“

Wobei „mehr Fans“ relativ ist. Das Stadio Sandro Cabassi fasst nämlich nur 4.164 Zuseher. Viel zu klein für die Serie A. „Sie wollen unbedingt in Carpi spielen, weil sie sehr heimstark sind. Sie werden auf jeden Fall alles daran setzen. Es wird auch diskutiert, ob sie die Kapazität mit Zusatztribünen erweitern können. Das dürfte aber ziemlich kompliziert sein“, berichtet Gucher.

Wahrscheinlicher ist, dass Carpi die Spiele in der kommenden Saison in einem größeren Stadion in der Umgebung – es gibt ja genügend – austrägt.

Dass sich die Frage überhaupt stellt, wo der FC Carpi in der Serie A antreten wird, darüber sind sie in Italien immer noch erstaunt. Aber zumindest weiß das Land nun, dass Carpi existiert. Ob es Lotito gefällt oder nicht.

Harald Prantl

Aus Carpi hat er jedenfalls eine echte Einheit geformt. „Da läuft jeder für jeden, alle kämpfen für ein Ziel. In der Serie B machen in dieser Saison nicht die Namen, sondern der Teamspirit den Unterschied aus“, sagt Gucher.

Das Auswärtsspiel in Brescia in der 15. Runde ist der beste Beweis für den unbändigen Willen des Teams. In der 79. Minute verwandelte Antonio Caracciolo den dritten Brescia-Elfer in diesem Spiel zum 3:1. Die Gäste hatten wegen zwei Ausschlüssen nur noch acht Feldspieler und erkämpften sich letztendlich noch ein 3:3.

Eine Prise Wahnsinn

Lediglich zwei Spieler stechen wirklich hervor. Der 22-jährige brasilianische Keeper Gabriel, der vom AC Milan ausgeliehen ist, und der ebenfalls 22-jährige nigerianische Mittelstürmer Jerry Mbakogu. „Gabriel hat ihnen sicher acht bis zehn Punkte gerettet. Und Mbakogu hat im Herbst irrsinnig viel getroffen (Anm. bisher insgesamt 14 Tore und 8 Assists). Als er dann verletzt war, sind einfach die anderen Stürmer eingesprungen und haben die Tore gemacht“, berichtet Gucher.

Defensive Kompaktheit und gute, schnelle Konter – so das simple Erfolgsrezept der „Biancorossi“. Und eine Prise Wahnsinn: „Es geht für sie – unter Anführungszeichen – um nichts. Deswegen haben sie oft Risiko genommen und sind dafür belohnt worden. Im Spiel gegen uns sind nach 30 Minuten schon vier Stürmer vorne gestanden.“

Das Risiko wurde mit dem Wunder des Aufstiegs belohnt. Und in Carpi werden dieser Tage viele Stimmen laut, die an den 20. Mai 2012 erinnern. Die Region wurde von einem schweren Erdbeben erschüttert. In Carpi wurde die Stärke 5,8 gemessen, zahlreiche Gebäude wurden zerstört, es gab auch Tote. „Aber wir haben es überstanden. Ja, einige definieren den FC Carpi wirklich als ein Wunder“, sagt Bürgermeister Alberto Bellelli.