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AC Milan: Absturz eines Weltvereins

AC Milan: Absturz eines Weltvereins

„Für uns gibt es nichts Wichtigeres.“

Die Botschaft der Fans des AC Milan war an niemand geringeren als Silvio Berlusconi gerichtet.

Der hatte sich vor einigen Wochen erdreistet, in einem Interview klarzustellen, dass es derzeit Wichtigeres für ihn gebe als den Klub, dessen Aktienmehrheit er 1986 an sich riss.

An und für sich kein Wunder, war und ist der „Cavaliere“ doch in eine ganze Reihe von Verfahren verstrickt, die von Bestechung und Steuerhinterziehung über enge Beziehungen zur Mafia bis hin zu Schmiergeld und Bilanzfälschung reichen.

Kein Verständnis für Berlusconi

Vice versa haben die Rossoneri dafür kein Verständnis, steckt ihre große Liebe doch seit geraumer Zeit in einer Krise. Nachdem schon im Vorjahr die internationalen Startplätze verpasst wurden, droht sich dieses Schicksal zu wiederholen.

Vor dem mit Spannung erwarteten „Derby della Madonnina“ beim Erzrivalen Inter (Sonntag, 19:45 Uhr), der selbst gerade versucht, sich aus einem Tief zu befreien, gibt es zahlreiche Baustellen, die viele offene Fragen hinterlassen.

Gemeinsam mit Serie-A-Experte Oliver Birkner, der als Italien-Korrespondent für den „kicker“, die „Welt“ und „spox“ schreibt, versucht LAOLA1, das Dilemma des 18-fachen Meisters und neunfachen Europapokal-Siegers zu skizzieren und mögliche Wege aus dem Schlamassel zu erörtern.

 BAUSTELLE KLUBFÜHRUNG

Der Hausverstand und ein Blick auf die Tabelle sollten genügen, um den Ernst der Lage zu erkennen. Der letzte Titel ist vier Jahre her, der Klub taumelt durch die Liga und hat Europas Topklubs längst aus den Augen verloren. In den Reihen Milans gibt es jedoch immer noch den einen oder anderen Realitätsverweigerer, der in seiner eigenen kleinen (Schein-)Welt lebt. „Selbst im Januar erklärte Berlusconi, man werde die beste Mannschaft im Jahr 2015“, berichtet Oliver Birkner von höchst skurrilen Vorkommnissen. „Es ist natürlich vollkommen realitätsfremd, den Leuten so etwas vorzugaukeln.“

Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander, das Auseinandersetzen mit Tatsachen gehört ohnehin nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen des 78-Jährigen. Passend dazu hatte Milan jahrelang auf seinem Teambus den Vermerk, der Verein mit den meisten internationalen Titeln zu sein. „Irgendwann nutzt sich das natürlich ab, wenn keine Substanz dahintersteckt“, weiß Birkner.

Wenig förderlich war zudem, dass es in den Führungsgremien nach der Installierung von Silvios Tochter Barbara als zweiter Geschäftsführerin heftige Diskrepanzen mit Adriano Galliani und einen Machtkampf gab, an dessen Ende nur Verlierer übrig blieben. Der Rosenkrieg wurde zwar beendet, der Außendarstellung Milans hat er aber nicht gedient. Zumal bekannt ist, dass der Rest der Familie Berlusconi Milan „lieber heute als morgen“ zumindest in Teilen loswerden würde.

  BAUSTELLE WIRTSCHAFT

In den 90ern war der italienische Fußball weltweit führend, auch in den frühen 2000er Jahren agierten Milan, Juve und Inter auf Augenhöhe mit den finanzstärksten Klubs der Welt. Das Problem damals: Während sich die englischen und spanischen Topvereine neben den TV-Geldern weiteren Einnahme-Quellen zuwandten und diese Teilbereiche forcierten, war man beispielsweise in Mailand nicht weitsichtig genug. Stillstand bedeutet bekanntlich Rückschritt und so dauerte es nicht lange, bis die Konkurrenz monetär enteilt war.

„Die meisten italienischen Vereine steckten über 70 Prozent der Kosten in das Personal. Das ist längst nicht mehr zeitgemäß“, erklärt Birkner das Hauptübel. Das Wort Merchandising war auch im übertragenen Sinne lange Zeit ein Fremdwort. „Viele Vereine wie Real oder Bayern, die in der Champions League den Ton angeben, sind ihnen in dieser Hinsicht um Lichtjahre voraus. Die großen italienischen Klubs - abgesehen von Juve - müssen das erst aufholen. Das wird Jahre dauern.“

Erste Schritte in die richtige Richtung wurden bereits getätigt. Die Transferbilanz der vergangenen Saisonen (siehe Tabelle) beweist, dass die fetten Jahre vorbei sind und inzwischen sogar hin und wieder ein Überschuss in der Jahresbilanz aufscheint. Konsolidieren heißt auch das Zauberwort bei den Personalkosten. Die „Gazzetta dello Sport“ veröffentlicht jährlich die Gehälter der einzelnen Spieler.

Führte der AC das Feld 2011/12 noch überlegen mit 160 Millionen Euro an – zu Spitzenzeiten vor gut zehn Jahren sollen es gar über 200 gewesen sein –, hält man inzwischen bei knapp 100 Millionen. Das Ende der Fahnenstange dürfte aber noch nicht erreicht sein, denn damit rangiert man hinter Branchen-Primus Juventus Turin auf Position zwei. Zum Vergleich: Der aktuelle Tabellen-Zweite Lazio haushaltet als Siebenter dieser Rangliste (55,1 Millionen Euro) deutlich besser.

 

 BAUSTELLE INVESTOR

„Wenn sich keine neuen finanziellen Quellen auftun und man weiterhin die Politik verfolgt, Spieler ohne Zukunft zu verpflichten, sehe ich auch in den nächsten Jahren schwarz“, urteilt Birkner. Der Deutsche gibt aber auch zu verstehen, dass er fest mit neuem Kapital rechnet. „Ich halte das für sehr, sehr wahrscheinlich.“

Bereits im Februar berichtete der thailändische Bankier Bee Taechaubol von guten Gesprächen und einem Angebot an Berlusconi, das dieser möglicherweise noch Ende des Monats annehmen wollte. Bis heute hat sich diesbezüglich nichts getan, dafür meldete sich kürzlich ein gewisser Fu Yixiang zu Wort. Fu wer? Der gute Herr ist Vermittler eines chinesischen Konsortiums, das Milan als potenzielles Zugpferd auserkoren hat, um dem Fußball im Land der aufgehenden Sonne auf die Sprünge zu helfen. Warum ausgerechnet Milan? "Weil es ein großartiger Klub ist", schwärmte Fu.

Wer den Zuschlag bekommt oder ob gar ein dritter Kandidat in den Verhandlungspoker mit Berlusconi einsteigt, ist unklar, doch „die Führungsriege weiß ganz genau, dass es unmittelbar der leichteste Weg ist, um frisches Kapital zu bekommen“. Birkner kann sich gut vorstellen, dass der Klub zunächst nur 30 Prozent Anteile abgibt, um weiterhin das Heft des Handelns in der Hand zu halten.

 BAUSTELLE PROFIKADER

Wer nach großen Namen im Kader des AC Milan sucht, bemüht sich vergeblich. Die Zeiten, in denen sich Weltfußballer wie Marco van Basten, Rivaldo, Ronaldinho oder Kaka im San-Siro-Stadion die Ehre gaben, sind vorbei. Ein Großteil der Mannschaft ist bestenfalls durchschnittlich begabt und nüchtern betrachtet nicht gut genug, um mit Milan die Champions-League-Plätze attackieren zu können. „Das ist eindeutig der Fall, man muss sich ja nur den Kader anschauen“, bestätigt Birkner diese Annahme und sieht den Verein deshalb auf Tabellenplatz neun "ganz gut aufgehoben".

Jahrelang hatte Geschäftsführer Adriano Galliani Narrenfreiheit in puncto Transfers und durfte auf Shopping-Tour gehen, wenn ihm danach war. Silvio Berlusconi subventionierte den Klub, ohne sich groß für Zahlen zu interessieren. Als der "Cavaliere" eines Tages die Bilanzen sah, soll er beinahe vom Stuhl gefallen sein. Die Folge war ein strikter Sparkurs, der etwa die Verkäufe von Kaka, Thiago Silva oder Zlatan Ibrahimovic zur Folge hatte. „Diese Transfers wurden getätigt, um die Bilanz zu begradigen“, erklärt Birkner und berichtet von der durch den Klub-Patron ausgegebenen Prämisse, „Spieler für wenig Geld, ablösefrei oder per Leihe zu verpflichten“. Unter dieser Voraussetzung einen Kader zusammenzustellen, der weiterhin den allerhöchsten Ansprüchen genügt, ist selbstredend unmöglich.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich viele Entscheidungsträger weiterhin daran klammern, große Namen in die Mode-Metropole locken zu müssen. Bestes Beispiel für diese „Auf Teufel komm raus“-Taktik ist der Transfer von Fernando Torres, einem Stürmer, der seinen Zenit augenscheinlich längst überschritten hat und vorwiegend von seinem Namen lebt. „Mit solchen Ex-Stars kommt man nicht weiter“, hält unser Experte fest. „Natürlich kommt man aus der Misere nur raus, wenn man eine Zukunftsperspektive hat. Seit 2007 gab es die nicht.“

<span style=\'color: #ffff00;\'>Saison <span style=\'color: #ffff00;\'>Ausgaben <span style=\'color: #ffff00;\'>Einnahmen <span style=\'color: #ffff00;\'>Bilanz
2014/15 20,60 28,50 <span style=\'color: #008000;\'>GEWINN 7,90
2013/14 34,90 17,90 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 17,00
2012/13 55,65 94,50 <span style=\'color: #008000;\'>GEWINN 38,85
2011/12 53,55 22,30 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 31,25
2010/11 41,70 22,37 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 19,33
2009/10 21,70 78,66 <span style=\'color: #008000;\'>GEWINN 56,96
2008/09 70,00 47,20 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 22,80
2007/08 27,00 11,61 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 15,39
2006/07 41,10 53,60 <span style=\'color: #008000;\'>GEWINN 12,50
2005/06 33,50 12,00 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 21,50
2004/05 11,00 10,50 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 0,50
2003/04 10,25 13,35 <span style=\'color: #008000;\'>GEWINN 3,10
2002/03 60,70 40,60 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 20,10
2001/02 146,50 20,70 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 125,80
2000/01 53,00 8,55 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 44,45
1999/00 64,90 11,15 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 53,75
1998/99 49,80 30,78 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 19,02
1997/98 45,08 32,72 <span style=\'color: #ff0000;\'>VERLUST 12,36
BILANZ seit \'98 840,90 556,99 <span style=\'text-decoration: underline;\'><span style=\'color: #ff0000; text-decoration: underline;\'>VERLUST 283,94
Angaben in Mio. Euro

Mexes ist Top-Verdienter bei Milan

 BAUSTELLE UMBRUCH

Die Mannschaft ist überaltert und zu teuer. „Natürlich hat man ein paar Leute im Kader, die schon länger Verträge haben, die noch abbezahlt werden müssen“, weiß Birkner. Es dauert daher ein paar Jahre, bis diese Altlasten aus der Bilanz verschwinden und im Budget Platz für Neuinvestitionen wird. In diesem Sommer bietet sich Milan eine Chance, den Kader auszumisten.

Nicht weniger als sieben Verträge laufen aus, darunter jene der Top-Verdiener Philippe Mexes (33 Jahre/kolportierte 4,0 Millionen Euro per anno), Nigel de Jong (30/3,5), Michael Essien (32/2,5) und Giampaolo Pazzini (30/2,5). „Wenn man jetzt nicht verstanden hat, dass man handeln muss, wird man es nie tun. Die Leute, deren Verträge auslaufen, sind allesamt Spieler, die man nicht gebrauchen kann“, fällt der Experte ein vernichtendes Urteil.

„Es ist hart, aber einen Mexes brauchst du als AC Milan nicht. Der trägt mehr Kilos als Klasse mit sich herum, mit Serie-A-Spitze hat das nichts zu tun.“ Man müsse knallhart seine Strategie durchziehen und sich von solchen Mitläufern trennen. Wichtig sei aber auch, den Kickern, die man verpflichtet, klarzumachen, dass man noch Zeit braucht, bis man wieder um Titel mitspielen kann.


 

 BAUSTELLE INFRASTRUKTUR

Das altehrwürdige San-Siro-Stadion, erbaut 1926, erlebte so manche epische Schlacht des AC, soll aber in wenigen Jahren ausgedient haben. Die Zuschauerzahlen sind stark rückläufig (siehe Tabelle), die Arena wirkt selbst mit 40.000 Fans noch immer leer, dazu gehört sie nicht dem Klub und wirft daher kaum Geld ab, wie das beispielsweise bei Juventus Turin, dem FC Bayern oder Real Madrid der Fall ist.

Ähnlich wie Juventus, das seit 2011 im vereinseigenen Stadion kickt, wollen auch die Rossoneri ihr eigenes kleines Schmuckkästchen. Die Pläne liegen nicht nur in der Schublade, sondern wurden Anfang des Jahres (siehe Video) auch der Öffentlichkeit präsentiert.

Ziel ist es, nach der EXPO in Mailand direkt neben dem Casa Milan, dem vereinseigenen Museum samt Mega-Store, Restaurant etc., das Milan Stadium mit Platz für gut 40.000 Fans zu errichten und ab 2019 (spätestens 2020) dort die Heimspiele auszutragen. „Juventus hat, obwohl das Stadion verkleinert wurde, in den ersten beiden Jahren 25 bis 30 Prozent mehr Geld eingenommen im Vergleich zum Stadio delle Alpi. Die Zahlen sprechen für sich“, erläutert Experte Birkner, warum dieser Schritt unausweichlich ist.

 BAUSTELLE NACHWUCHS

Zahlreiche Erfolge zwischen den späten 80er und 2000er Jahren ließen die Milan-Bosse unachtsam und sorglos werden. „Die eigene Jugendarbeit ließ man brachliegen, was Paolo Maldini häufig anprangerte“, hält der in Italien lebende Birkner fest. Das hatte zur Folge, dass a) die frühere Talenteschmiede - man denke an Maldini, Franco Baresi, Demetrio Albertini oder Alessandro Costacurta - kaum noch zukünftige Hoffnungsträger produzierte und b) den wenigen verbliebenen nur selten die Möglichkeit zugestanden wurde, sich im Haifischbecken Profifußball in Szene zu setzen.

Ein herausragender Jugendspieler wie Simone Verdi, inzwischen 22 Jahre alt, spielte von 2003 bis 2011 in diversen Nachwuchs-Teams der Rot-Schwarzen, genügte aber offenbar nicht den Ansprüchen der jeweiligen Trainer. Inzwischen kickt er beim FC Empoli und gehört zu den absoluten Leistungsträgern. Gerüchte über eine Rückholaktion machen die Runde - gegen eine Millionenablöse oder per Leihe, versteht sich. Das Dilemma, indem Milan steckt, wird anhand dieses Beispiels, das auch die Unfähigkeit vieler handelnder Personen widerspiegelt, deutlich.

„Man sonnte sich zu lange ohne Plan B in den Erfolgen und tat dies auch noch, als es längst an der Zeit war, für die Zukunft zu planen. So wie es aussieht, will man dem entgegenwirken.“ Besser spät als nie, könnte man meinen. Klar ist aber auch, dass der Klub, als er endlich die Zeichen der Zeit erkannte, längst vor einem Scherbenhaufen stand. Bis die neugewonnene Einsicht auch die gewünschten Früchte trägt, könnte es noch eine Weile dauern. Aktuell befindet sich mit Super-Talent Hachim Mastour (16), der von zahlreichen Topklubs Europas umworben wird, lediglich ein U20-Spieler im Kader der Rossoneri.

<p class=\'MsoNormal\'><span style=\'color: #ffff00;\'>Saison <span style=\'color: #ffff00;\'>Sp. <span style=\'color: #ffff00;\'>ausv. <span style=\'color: #ffff00;\'>Gesamt <span style=\'color: #ffff00;\'>Ø <span style=\'color: #ffcc00;\'>Saison <span style=\'color: #ffcc00;\'>Sp. <span style=\'color: #ffcc00;\'>ausv. <span style=\'color: #ffcc00;\'>Gesamt <span style=\'color: #ffcc00;\'>Ø
2014/15 16 0 600.759 <span style=\'color: #ff0000;\'>37.547 2005/06 19 0 1.118.851 58.887
2013/14 19 0 757.615 39.874 2004/05 19 0 <span style=\'color: #008000;\'>1.188.899 62.574
2012/13 19 0 839.378 44.178 2003/04 17 <span style=\'color: #008000;\'>4 1.079.331 <span style=\'color: #008000;\'>63.490
2011/12 19 2 931.372 49.020 2002/03 17 0 1.046.074 61.534
2010/11 19 2 1.024.521 53.922 2001/02 17 0 996.476 58.616
2009/10 19 1 816.780 42.988 2000/01 17 0 896.294 52.723
2008/09 19 0 1.135.384 59.757 1999/00 17 0 986.781 58.046
2007/08 19 0 1.052.052 55.371 1998/99 17 0 1.011.289 59.488
2006/07 19 0 885.049 46.582 1997/98 17 2 885.594 52.094

 BAUSTELLE FANS

Die erfolgsverwöhnten Tifosi haben die Schnauze voll und protestieren seit einigen Wochen regelmäßig. Der Hashtag #SaveACMilan macht nicht nur in den Social-Media-Kanälen die Runde, sondern ist inzwischen auch regelmäßig bei Protestaktionen im Rahmen von Heimspielen zu sehen. In Mailand, einer Stadt, die sich als heimliche Hauptstadt Italiens propagiert, hängen die Trauben eben höher als anderswo.

„Es ist nicht einfach, wenn man so lange – abgesehen von wenigen Ausreißern nach unten – permanent zur europäischen Spitze gehörte“, äußert Birkner Verständnis für den Unmut der Anhänger. Der Italien-Experte sieht die sportliche Krise aber nicht als Hauptursache für die immer schlechter werdende Stimmung. „Vielen ist bewusst, dass die Mannschaft nicht zu mehr in der Lage ist. Es geht ihnen auch darum, nicht mehr durch fragwürdige Aussagen der Vereinsspitze an der Nase herumgeführt zu werden.“

Bis zum nächsten CL-Sieg wird's dauern

 FAZIT

Der ruhmreiche AC Milan ist aktuell eine Großbaustelle. Der Klub hat das Selbstverständnis, zu den tragenden Säulen des europäischen Vereinsfußballs zu gehören. Um diesem Anspruch in Zukunft wieder gerecht werden zu können, braucht es ein Umdenken an allen Ecken und Enden. „Milan bräuchte acht, neun oder zehn Topspieler, um wieder nach oben zu kommen. Bayern oder auch Barcelona genügen ein, zwei Verstärkungen pro Jahr, weil man eine zukunftsorientierte Mannschaft aufbaute“, konstatiert Oliver Birkner.

Die kommenden Wochen und Monate bieten die Gelegenheit, den aufgeblähten und nur mäßig talentierten Kader zu entrümpeln und die Weichen für die Zukunft zu stellen. Alte Haudegen, die ihren Zenit schon vor Jahren überschritten, müssen raus, frisches Blut soll her. Die Krux an der Sache ist, dass dies mit finanziell bescheidenen Mitteln gelingen muss. Daher setzen die Bosse wieder vermehrt auf den eigenen Nachwuchs. Gianluigi Donnarumma (16), Patrick Cutrone (17) und Manuel Locatelli (17) wurden jeweils ab Sommer mit Profiverträgen bis 2018 ausgestattet. Oberste Prämisse muss bei Milan haben, endlich wieder selbst große Stars herauszubringen.

Ob ein Verkauf, der immer wieder im Raum steht, das Allheilmittel darstellt, darf bezweifelt werden, da dadurch auch stets ein großes Stück Identität verloren geht. Man wird in Milanello jedoch nicht darum herumkommen, sich zumindest einen Teilhaber ins Boot zu holen, um liquide zu sein und mit frischem Kapital mehr Handlungsspielraum zu gewinnen.

So schwer es Milan-Fans auch fallen mag, doch aktuell ist Rivale Juventus Turin jener Klub, der in Italien den Ton angibt. „Wir müssen dem Beispiel von Juve folgen. Zwei, drei Jahre des Opferns, dann bin ich realistisch, dass wir wieder durchstarten“, erklärte Milan-Legende Kaka, inzwischen in der Major League Soccer tätig, vor wenigen Tagen. Dass er dabei von „Wir“ sprach, zeigt, wie sehr der Klub den Stars vergangener Tage immer noch am Herzen liegt. Ob zwei, drei Jahre dabei ausreichen, muss indes infrage gestellt werden. „Um in der Serie A vorne mitzuspielen, könnte das genug sein, für Europa reicht das nicht“, glaubt Birkner.

Ein wichtiger Punkt wird sein, dass man die Fans mit ins Boot holt und ihnen eine Perspektive aufzeigt. Die treuen Anhänger müssen das Gefühl bekommen, Teil des Projekts „Milan neu“ zu sein, damit sie auch wieder vermehrt ins Stadion strömen. Sie sind die Seele des Vereins und haben entscheidend dabei geholfen, den Klub zu einem der größten und beliebtesten weltweit zu formen. Der AC Milan ist ihr Leben, nicht umsonst skandierten sie "Für uns ist nichts wichtiger." Mannschaft und Verein müssen die Anhänger Stück für Stück zurückgewinnen. Ein Sieg im Derby bei Inter wäre ein guter Anfang.


Christoph Nister