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Die brutale Welt der "Crazy Gang" von Wimbledon

Die brutale Welt der

Wenn am Montag der Liverpool FC im Cherry Red Records Fans‘ Stadium gastiert und in der dritten Runde des FA Cups beim AFC Wimbledon antritt, werden bei den Zuschauern auf den Rängen mit Sicherheit Erinnerungen wach.

Erinnerungen an den guten alten Wimbledon FC und ein gewonnenes FA-Cup-Endspiel gegen die "Reds". An Zeiten, in denen Wimbledon noch Wimbledon war und nicht Milton Keynes. Und an eine Ära, in der die "Crazy Gang" nicht nur für Erfolg sorgte, sondern auch dafür, dass das Tennis-Mekka eine dunkle, raue Seite hatte.

Nach einer Klatsche geht es in die Oper

Lawrie Sanchez, Torschütze zum 1:0-Sieg, und Tormann Dave Beasant, der einen Elfmeter von John Aldrige parierte, ragten am 14. Mai 1988 aus einer legendären Mannschaft heraus, die an diesem Nachmittag in Wembley den größten Triumph der Vereinsgeschichte des Wimbledon FC errang.

Der haushohe Favorit Liverpool musste sich geschlagen geben und das ausgerechnet einem Team, das nicht gerade mit fußballerischer Finesse gesegnet war. Im Gegenteil.

"Wir haben den Platz vor den Spielen gewässert, wir hatten gar nicht vor zu passen", verrät der ehemalige Chairman Sam Hammam in einer Dokumentation von "BT Sports". "Wir haben den Boden nicht benutzt, wir haben die Luft benutzt."

Der Libanese, der laut eigener Aussage keine Ahnung von Fußball hatte, passte zur "Crazy Gang". "Es stand in ihren Verträgen und war bei der FA registriert: Wenn sie mit vier Toren Unterschied verlieren, müssen sie in die Oper gehen. Stellt euch das vor, wenn Spieler wie Vinnie Jones vier Stunden lang fremdsprachigen Opern zuhören müssten - sie haben nie mit vier Toren Unterschied verloren", erzählt er von seinen ungewöhnlichen Motivationsmethoden.

Wimbledon schaut man am besten am Teletext

Oper? Das hätte wirklich nicht zu diesem Team gepasst. Wimbledon spielte, effektiv und hart, überhart, brutal. Was damals oft maximal mit Gelb geahndet wurde, würde heute wohl als Körperverletzungs-Delikt durchgehen.

Vinnie Jones - "Die Axt"

Schmutzige Tricks auch – im wahrsten Sinn des Wortes – unter der Gürtellinie, standen auf der Tagesordnung. Fußballromantiker würden vielleicht sagen, good old british eben.

"Es war nicht nur extrem direkt und ein hoher Ball nach dem anderen, es war auch enorm physisch, manchmal ziemlich gewalttätig", beschreibt Gary Lineker das Spiel von Wimbledon. Der ehemalige Nationalspieler musste zahlreiche Schlachten gegen den FC schlagen. Leckerbissen waren die Partien zumeist keine, was ihn auch einmal zu der Aussage veranlasste: "Spiele von Wimbledon verfolgt man am besten am Teletext."

Statt Gehaltserhöhung wird das Auto angezündet

Das Wimbledon der 1980er und 90er Jahre war eine Ansammlung von Machos, rustikales Benehmen und derbe Witze inklusive. Die Schuhe eines Kollegen auf dem Dach zu verstecken, war mit Abstand der harmloseste Streich, den man sich spielte. Kleidung wurde angezündet und der eine oder andere im Spind eingesperrt.

Der Höhepunkt wurde mit dem Abbrennen von Alan Corks Auto erreicht. Er hatte zuvor eine Gehaltserhöhung gefordert, das Team meinte aber, er solle mit der Versicherungssumme für sein Vehikel vorliebnehmen.

Es war ein Haufen von Jungs, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden, die es Zeit ihres Daseins gewohnt waren, um alles zu kämpfen.

Die Warlords von Wimbledon

Zwei der Härtesten unter den Harten waren John Fashanu und Vinnie Jones - oder einfach "Fash the Bash" und "Die Axt". Sie waren die Aushängeschilder der "Crazy Gang", in der das Klima einer militärischen Spezialeinheit herrschte.

Dave Bassett formte das Erfolgsteam

"Wir waren irgendwann in der Phase, in der wir glaubten, wir wären Warlords, denn jeden Samstag um drei Uhr nachmittags war Krieg", erzählt Fashanu.

Dennoch oder gerade deswegen war der WFC eine eingeschworene Truppe, der Aufstieg von der vierten Liga in die damals erstklassige First Division innerhalb eines Jahrzehnts tat ihr übriges dazu. Trainer Dave "Harry" Bassett war die Vaterfigur, für die die Spieler alles zu tun bereit waren. Er führte Wimbledon bis auf Platz sechs der höchsten englischen Spielklasse.

Den FA-Cup-Triumph machte er aber nicht mehr mit. "Als er ging, wollten wir ihm alle folgen. Er war ein absoluter Leader", sagt Dennis Wise über den Abgang von Bassett zu Watford 1987.

"Wimbledon ist wie die Mutter und der Vater die ich nicht hatte. Der Bruder den ich nicht hatte", sagt Fashanu, der nach der Trennung seiner Eltern gemeinsam mit Bruder Justin, der sich 1990 in der "Sun" outete und später Selbstmord beging, bei einer Pflegefamilie aufwuchs. Jones pflichtet dem bei, wenn er sagt: "Wir waren wie eine Familie."

Überlebenskampf in der Kabine

Für Neuzugänge war es schwierig, sich in dieses besondere Gefüge zu integrieren. "Als ich das erste Mal auf das Trainingsgelände kam, hatten sie gerade einen Typen auf das Dach eines Autos geschnallt und fuhren mit ihm auf die A3. Das war ein Initiationsritus", erinnert sich ein Journalist.

Fashanu regierte in der Kabine

Vor allem von der Meinung Fashanus hing einiges ab. "Fash hielt sich für den Imperator von Nigeria. Ein toller Kerl, aber ein harter, wirklich harter Typ", beschreibt Jones die Verhaltensweise von Fashanu, der sich als Herrscher in der Umkleidekabine sah.

"Wenn du großen Respekt willst und ihn auch behalten willst, dann brauchst du ein Element von Angst", sagt Fashanu selbst. Meinungsverschiedenheiten wurden ohne Umschweife geregelt, so musste ein Neuling nach einem Kabinen-Streit mit Fash mit 20 bis 30 Stichen an der Wade genäht werden. "Er hat nur gesagt 'Schließ' die Tür'. So etwas habe ich noch nie gesehen, Fash hat ihn herumgeworfen wie eine Stoffpuppe", erzählt Jones.

Auf die Frage, ob sie in der Kabine mit Angst regiert hätten, antwortet Fashanu: "Ja - und es war wunderbar."

Daran scheiterte der eine oder andere. "Ich habe Leute zusammenbrechen und weinen sehen", erzählt der damalige Spieler Terry Phelan, der zugibt, dass die Anfangszeit auch für ihn hart war: "In den ersten sechs Monaten war es ein sehr dunkler Ort für mich." Er hielt aber durch. "Entweder wuchs dein Rückgrat schnell oder deine Männlichkeit löste sich auf", beschreibt es Jones.

Niemand will nach Wimbledon

Mit den Gegenspielern ging man noch weniger zimperlich um. Niemand wollte gegen Wimbledon spielen, niemand wollte an der Plough Lane spielen. "Wir haben dafür gesorgt, dass die Gästekabine kalt war, dass es kein Klopapier gab. Wir haben Salz in den Tee gegeben und ihn so schrecklich gemacht, dass er nicht zu trinken war, ... das waren alles Psychotricks", sagt Phelan.

"All die großen Klubs dachten sich 'Ach nein, Wimbledon an diesem Wochenende", weiß Jones, "Es ging für sie nicht darum, ein gutes Resultat einzufahren, es ging nur darum, ohne Verletzung aus dem Spiel heraus zu kommen."

Auch verbal nahm man sich die Gegner vor. "Vor dem FA-Cup-Finale habe ich John Barnes im Tunnel alles geheißen. Ich habe ihm jede Beleidigung an den Kopf geworfen die es gibt, ihm Dinge gesagt, die nur ein schwarzer Mann zu einem schwarzen Mann sagen kann", erinnert sich Fash etwa an die Partie gegen Liverpool.

Der Kabinengang war ohnehin ein weiterer Spielplatz des Goalgetters. Vor Anpfiff wärmte er sich mit Kung-Fu-Übungen auf, da konnte man als Verteidiger schon Angst bekommen, verriet Barnes. Nach einem Spiel gegen Manchester United verpasste Fashanu Viv Anderson auch einmal ein Cut.

"Ob wir zu weit gegangen sind?" - Nein

Dass Jones immer dorthin ging, wo es – vorzugsweise dem Gegner – wehtat, zeigt ein heute noch berühmtes Bild, auf dem er Paul Gascoigne in die Kronjuwelen greift. Die Karriere von Gary Stevens beendete er indirekt. Von einem Tackling der "Axt" erholte sich der Tottenham-Verteidiger nie mehr richtig. Die bedingungslose Brutalität mit der er vorging, lässt ihn in der Hitparade der härtesten Fußballer aller Zeiten ganz weit oben aufscheinen.

"Ob wir zu weit gegangen sind? Wir mussten das tun, um zu überleben", so die Erklärung von Jones", der auch mit dem Video "Soccer’s Hard Men", in dem der Waliser die härtesten Spieler präsentierte und seine fiesen Tricks enthüllte, für Aufregung sorgte. 20.000 Pfund Strafe und eine sechsmonatige Sperre auf Bewährung brachte ihm der Streifen ein, weil er "das Spiel in Verruf brachte".

Für Fash und Jones war jedes Spiel eine Schlacht, in der sie um ihr Leben kämpften, perfekt für ein Underdog-Team wie Wimbledon. "Was heißt zu weit? Es ist niemand gestorben, das wäre zu weit. Haben sich Leute etwas gebrochen? Ja, vielleicht, aber das gehört zum Spiel", ist auch bei Fashanu keine Einsicht eingekehrt.

Als der FC Wimbledon verschwand

Jones lief nach dem FA-Cup-Triumph mit Wimbledon noch für Leeds, Sheffield United und Chelsea auf, bevor er in den Süd-Westen Londons zurückkehrte. Fashanu schloss sich Jahre später Aston Villa an.

Beide hatten ihre Karrieren längst beendet und eine Laufbahn in Film und Fernsehen eingeschlagen (Jones: Nur noch 60 Sekunden, Mean Machine, Passwort: Swordfish, Eurotrip, X-Men 3, …), als es Anfang des neuen Jahrtausends mit dem Wimbledon FC zu Ende ging.

Der 1889 gegründete Klub strauchelte nicht nur sportlich, er schlitterte auch in eine Insolvenz. Der Verein wurde letztlich verkauft und umgesiedelt. Seit 2004 spielt er unter dem Namen Milton Keynes Dons.

Den Verlust ihres Klubs vor Augen gründeten Fans des Wimbledon FC ihren Herzensklub bereits 2002 als AFC Wimbledon neu. Mittlerweile ist man fixer Bestandteil im Mittelfeld der viertklassigen League Two.

Akinfenwa: Der stärkste Fußballer der Welt

Typen wie Jones und Fash machen Wimbledon nicht mehr unsicher, mit Adebayo Akinfenwa steht seit vergangenem Sommer aber ein Spieler in den Reihen des AFC, der Fußballzeitschriften und -websites füllt.

1,80 m groß, 110 Kilo – das sind die Eckdaten des Hobby-Bodybuilders, der sein Geld als Stürmer verdient. Damit gilt der 32-Jährige als kräftigster Profi-Fußballer des Erdballs.

"Erst neulich wurde ich von der Polizei angehalten. Der nette Herr kam an mein Fenster, überprüfte meine Papiere und fragte, was ich denn beruflich mache. Ich sagte: 'I'm a footballer.' Der Mann grinste und sagte: 'Der letzte Super Bowl war klasse', erzählte der Koloss einst im Interview mit "11 Freunde".

In der Fußball-Simulation FIFA 14 erhielt er mit 97 den höchsten Wert in der Kategorie Stärke und wurde damit nicht nur berühmt, sondern erlangte auch über die Grenzen der englischen dritten und vierten Liga hinaus Kultstatus.

Nicht zuletzt, weil er erklärte, dass es ihn in der 2015er Ausgabe frustriere, mit sich selbst zu spielen. Er sei viel zu langsam, beschwerte er sich bei Hersteller EA Sports.

"Wissen Sie, Menschen versuchen immer, einander in Schubladen zu stecken. Das ist doch krank. Jeder ist ein eigener Mensch, mit eigenen Gedanken, eigenen Stärken", sagt Akinfenwa.

Seine ganz eigenen und eigenwilligen Stärken nutzte auch die "Crazy Gang" vor einem Vierteljahrhundert. Wimbledon scheint eben ein guter Boden für außergewöhnliche Typen zu sein, egal ob FC oder AFC.

 

Christoph Kristandl