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Nicht die besten Spieler, sondern das beste Team

Nicht die besten Spieler, sondern das beste Team

Was kann Frankreich? Das fragen sich vor der WM nicht nur Fans, sondern auch etliche Experten.

Seit die goldene Generation mit dem Gewinn der Welt- und Europameisterschaft 1998 und 2000 neue Maßstäbe für die Bedürfnisse der anspruchsvollen Franzosen setzte, scheint die "Equipe Tricolore" seit nun 14 Jahren daran zu zerbrechen.

Konnte Regisseur Zinedine Zidane die "Bleus" 2006 noch ins WM-Finale führen, folgte 2010 der Supergau.

Vier Jahre nach dem blamablen Auftritt in Südafrika versuchten mit Laurent Blanc und jetzt Didier Deschamps zwei Protagonisten der 98er-Generation das Teamgefüge als Nationaltrainer wiederherzustellen.

Und tatsächlich scheint eine vorsichtige Auf- bzw Umbruchsstimmung in Frankreich zu herrschen, der auch das Fehlen von Frank Ribery keinen Abbruch tat.

"Ich habe das beste Team einberufen"

"Ich habe das beste Team einberufen, und nicht die 23 besten französischen Spieler", stellte Didier Deschamps bei seiner Kaderbekanntgabe klar. Mit dieser Aussage sorgte Frankreichs Nationaltrainer für Aufsehen und erinnerte zugleich an die Worte von Ex-ÖFB-Teamchef Josef Hickersberger vor der Euro 2008.

Die Historie gibt seiner Entscheidung aber recht, denn die Exzentriker im Nationalteam der stolzen Franzosen haben Tradition. In der jüngeren Vergangenheit verpassten es die Mannschaften, dieselbe Reife und Geschlossenheit wie die erfolgreiche Multi-Kulti-Truppe der 1998er-Generation von Teamchef  Aimé Jacquet an den Tag zu legen.

Im Laufe der Jahre nahm nicht nur die Qualität der sportlichen Leistungen ab, sondern auch die Zwietracht in der Mannschaft zu - eine gefährliche Kombination, die schließlich 2010 ihren vorläufigen Tiefpunkt erreichte.

WM 2010 hinterließ Baustellen

Nach der Weltmeisterschaft in Südafrika schienen alle Tabus gebrochen worden zu sein. Das skandalöse Auftreten der Mannschaft sorgte weit über die Grenzen Frankreichs und Südafrikas hinaus für Kopfschütteln und ging als das „Fiasko von Knysna“ in die Geschichte ein.

Einige Hauptakteure des Aufruhrs finden sich auch heute noch im Kader wieder. Auf den damaligen Kapitän Patrice Evra, 2010 beinahe in eine handfeste Auseinandersetzung mit dem Fitness-Coach des Teams verwickelt, greift Deschamps ebenso zurück wie etwa auf den Torhüter und nunmehrigen Spielführer Hugo Lloris, der damals Mobbing-Opfer einiger Mitspieler gewesen sein soll.

Der Bus, in dem die Spieler streikten, wurde zum Symbol

Franck Ribery, der als Rädelsführer der Spieler-Proteste gegen den Ausschluss Anelkas gilt, musste aufgrund seiner Rückenprobleme die Heimreise antreten.

Noch lange hatten der ebenfalls gescholtene französische Verband und sogar die Regierung um den damaligen Präsidenten Nicholas Sarcozy damit zu tun, die Wunden von Südafrika zu kitten. Neben etlichen Sperren und Rücktritten löste das katastrophale Auftreten auch eine öffentliche Diskussion darüber aus, ob es denn die vielzitierte nationale Identität in einer seit jeher ethnisch bunten Nationalauswahl überhaupt jemals gegeben habe, oder diese ein Mythos sei.

Knysna hat die Ehre der „Grande Nation“ tief verletzt und scheint im französischen Sprachgebrauch immer mehr die Schlacht von Waterloo als Synonym für eine totale Niederlage zu ersetzen.

„Fuck France, fuck Deschamps“

Mittlerweile sind vier Jahre vergangen. In einer symbolischen Aktion wurde eine Kopie des damaligen Mannschaftsbusses verschrottet und nachdem Domenechs Nachfolger Laurent Blanc hauptsächlich Aufräumarbeit leistete, kann Deschamps nun wieder in die Zukunft blicken. Für den Erfolg schreckt er vor unkonventionellen Maßnahmen nicht zurück, verzichtet sogar auf Mittelfeld-Genius Samir Nasri.

Die Nicht-Berücksichtigung von Nasri für den WM-Kader Deschamps schlug hohe Wellen, kam allerdings nicht gänzlich unerwartet. Der technisch versierte 26-Jährige galt schon immer als Enfant Terrible und musste nach der Euro 2012 bereits drei Spiele aussetzen.

Während sich Nasri nach der Ausbootung ungewohnt demütig zeigte, wählte seine Freundin eine Schimpforgie via Twitter mit späterer Einsicht als Ausdruck für ihre Emotionen. Deschamps blieb seiner Linie treu, griff hier hart durch und verklagte das Model wegen "öffentlicher Beleidigung".

Abseits des ganzen Theaters gilt es festzuhalten, dass Nasri in dieser Spielzeit zweifellos einer der besten französischen Spieler im Ausland war und in der hochkarätigen Meister-Mannschaft von Manchester City auch maßgeblich am Titel beteiligt. Ein Indiz, wieviel wert Deschamps auf die Gemeinschaft legt, wenn er einen solch wertvollen Akteur zuhause lässt.

Griezmann überzeugte in Testspielen

Ribery-Nachfolger steht bereit

In Brasilien soll eben alles besser werden. Darum wird dem verletzten Franck Ribery in der Heimat auch keine Träne nachgeweint - im Gegenteil. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich im Land eine „Jetzt-erst-recht“-Stimmung. Abstimmungen wurden veröffentlicht, in denen den Blauen jetzt sogar bessere Chancen eingeräumt werden. Insgesamt erwartet man sich nun eine bessere Chemie innerhalb der Mannschaft.

Außerdem stehe der designierte Nachfolger des bayrischen Königs ja schon bereit. Der 23-jährige Antoine Griezmann spielte bei Real Sociedad eine starke Saison und könnte einer der Shootingstars der WM werden. Mit elf Toren im Herbst brach der schnelle Linksfuß sogar einen Rekord von Altmeister Thierry Henry. Kein Franzose hatte in der Hinrunde der Primera Divison mehr Tore erzielen können.

Wettbewerbsübergreifend kam „Grizi“ schlussendlich auf 21 Saisontore. Eine mehr als ausreichende Bewerbung für die Elf von Deschamps, die sich vor dem Start mit einem konkurrenzfähigen, homogenen Kader präsentiert.

Evra führt Abwehr an

Denn die Equipe kann durchaus wieder mit einer respektablen Abwehr punkten, die vor allem mit nervenstarken Akteuren aus den Topligen überzeugt.

Neben Laurent Koscielny, Bacary Sagna (beide FC Arsenal), Raphael Varane (Real Madrid) und Mamadou Sakho (FC Liverpool) steht Routinier Patrice Evra von Manchester United bereit, um seine Nebenmänner zu führen.

Da gegen die Gruppengegner Schweiz, Ecuador und Honduras wohl zuallererst die Offensive in der Pflicht stehen wird, scheint auch die Möglichkeit gegeben, sich für höhere Aufgaben einzuspielen. Angesichts der relativ glücklichen Gruppenauslosung wird in der Heimat naturgemäß der Aufstieg erwartet.

Erst im Playoff gegen die Ukraine sicherte man sich einen WM-Platz

Benzema steht in der Pflicht

Das Rampenlicht scheint Karim Benzema von Real Madrid überlassen zu werden. Auf dem Stürmer, der wie Varane mit dem Champions-League-Titel im Gepäck anreist, ruht eine hohe Erwartungshaltung, die er definitiv erfüllen kann.

In dieser Spielzeit scheint der 26-Jährige insbesondere mental stark zugelegt zu haben, was mit Sicherheit ein Verdienst seines Co-Trainers und Landsmanns Zinedine Zidane ist, der ihn im Laufe der Saison immer wieder zur Seite nahm und in Schwächephasen den Rücken stärkte. So kam er mit dem „BBC“-Sturmtrio, welches er gemeinsam mit Cristiano Ronaldo und Gareth Bale bildet, auf satte 97 Treffer  - 24 davon gehen auf sein Konto.

Zuletzt funktionierte in der Vorbereitung außerdem erstmals das harmonische Zusammenspiel mit seinem vermeintlichen Sturmpartner Olivier Giroud. Nicht zuletzt deshalb kann Benzema zur Abwechslung auf Unterstützung aus der Heimat zählen.

Anders als in den letzten Jahren. Als gleichzeitig mit Ribery die Prostitutions-Affäre ans Licht kam, bekam er es mit Anfeindungen von allen Seiten zu tun. Und da er wegen seiner algerischen Wurzeln die „Marseillaise“ nicht mitsingt, wurde von der rechtsextremen Partie Front National (FN) letztes Jahr gar ein Ausschluss aus dem Nationalteam gefordert.

Chance auf Überraschung

Mittlerweile scheint der frühere Lyon-Kicker gefestigt zu sein. Und wenn seine Oberschenkelzerrung vollständig auskuriert ist, hat er durchaus das Zeug dazu, konkurrenzfähige und hungrige „Bleus“ zu führen und in Brasilien aufzuzeigen.

Die Maßnahmen von Deschamps scheinen Wirkung zu zeigen, von Unruhe im Nationalteam fehlt jede Spur. Wenig dringt aus den Trainingslagern nach außen, viel mehr liegt der mediale Fokus auf den bekannten Turnierfavoriten.

Vielleicht eine Chance, um zu überraschen, denn die Vorrausetzungen dafür sind gegeben. Es wäre Balsam für die geschundene französische Fußball-Seele.

 

Niki Riss