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Italienische Revolution vs. Spanische Stiltreue

Italienische Revolution vs. Spanische Stiltreue

Deutschland, Turnierfavorit und mit vier Siegen in die EM gestartet, auf der einen Seite.

Italien, ein von einem Manipulationsskandal geschwächtes Team, das schon um den Aufstieg in die K.o.-Phase und ins Halbfinale zittern musste, auf der anderen.

Die Rollen im Halbfinale schienen klar verteilt, und dennoch war es DFB-Teamchef Löw, der seine Taktik entscheidend veränderte und mit Toni Kroos als Pirlo-Bewacher ein Eingeständnis vor dem Gegner machte.

Die Maßnahme fruchtete nicht, die „Squadra Azzurra“ gewann mit 2:1 und wird vor allem ob des Wie von allen Seiten gefeiert.

Cesare Prandelli hat allen Widrigkeiten zum Trotz aus seinen zur Verfügung stehenden Kaderspielern ein Team geformt, das nicht nur um den Titel kämpft, sondern auch Respekt, Begeisterung und Jubel um eine Revolution im italienischen Fußball hervorruft.

Taktischer Wandel

„Wir werden ein modernes Team sehen, das in der Lage ist, erfrischenden Offensiv-Fußball zu spielen“, hatte der 54-jährige Trainer vor der EURO in einem Interview mit der „L’Equipe“ bereits angekündigt und wurde für diese Prognose belächelt.

Mit schwarz-weißer Power

Inklusive Buffon bilden mit Barzagli, Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci vier Spieler von Juventus Turin den Kern der Defensive, insgesamt stehen sieben Akteure vom aktuellen Meister im Kader.

Dies bringt erstens logischerweise ein hohes Maß an Eingespieltheit mit sich und zweitens eine Siegermentalität aus der Vereinsebene, von der das Nationalteam nun profitiert. „Wir Juventus-Spieler haben Kontinuität und den Wunsch zu siegen, dieses tief veranlagte Verlangen, nach Polen und die Ukraine mitgebracht“, erklärt etwa Claudio Marchisio, der wie seine Klubkollegen in 38 Saisonspielen in der Serie A ungeschlagen blieb.

An diesem Punkt gelingt die optimale Verbindung zum Finalgegner. Während Italien von der „Alten Dame“ geprägt ist, steht bei Spanien ein „Offensiv-Barca“ – um die defensive Real-Achse Xabi Alonso-Arbeloa-Ramos-Casillas erweitert – auf dem Platz.

Spanien als Barca-Klon

Vicente del Bosque vertraute schon beim Titelgewinn 2010 auf das katalanische Erfolgsrezept des „Tiki-Taka“ und geht bei der aktuellen EM sogar noch einen Schritt weiter.

Als Reaktion auf den Ausfall von Torjäger David Villa, mit 50 Treffern Rekordschütze im spanischen Team, übernahm der 61-Jährige die Angriffstaktik des FC Barcelona mit „falscher Neun“ und quantitativ verstärktem Mittelfeld.

Eine Maßnahme, die in spanischen Medien vehement in Frage gestellt wird, stehen doch mit Fernando Llorente, Alvaro Negredo und nicht zuletzt Fernando Torres drei Spieler des Typus Stoßstürmer im Kader.

Die Nachteile des Systems, das zwar eine Dominanz im Mittelfeld und im Regelfall ein Übermaß an Ballbesitz mit sich bringt, waren in den bisherigen Partien zu erkennen und sind ausschlaggebend für die vorherrschende Kritik an einer Spielweise, die bis vor kurzem noch allerorts glorifiziert wurde.

Kein Zug nach vorne

Hauptkritikpunkt am spanischen Offensiv-Fußball ist der mangelnde Zug nach vorne. Statt sich stets Richtung Tor zu orientieren oder das Eins-gegen-eins zu suchen, wird der Ball aus aussichtsreicher Position zurückgespielt. Die Intention des „Mürbespielens“ des Gegners offenbart sich so dem Zuseher als Mangel an Risiko und Furcht vor einem möglichen Fehlpass.

Natürlich ist dies überspitzt dargestellt – Xavi, David Silva und Cesc Fabregas spielen des öfteren gewagte Pässe in die Schnittstelle und Andres Iniesta führt die Torschuss-Statistik an –, aber ein beachtlicher Part der Probleme im spanischen Spiel ist hausgemacht.

Bild 1: Das 4-6-0 mit verengten Räumen; Bild 2: Das 4-3-3 mit fixen Flügeln

Nach dem Einzug ins Endspiel lacht keiner mehr, auch nicht über Prandellis Angabe, seine Inspirationsquelle sei der „Totaalvoetbal“ vom Ajax der 70er Jahre. Italien, traditionell als Abwehrspezialist verschrien, produzierte mehr Torschüsse als jedes andere Team bei dieser Endrunde.

Die offensichtlichste Besonderheit im System der „Azzurri“ liest sich banal – zwei Stürmer. Im Gegensatz zum Großteil seiner Amtskollegen in Polen und der Ukraine lässt der ehemalige Fiorentina-Coach zwei Spieler, die von Defensiv-Aufgaben weitgehend befreit sind, an vorderster Front auflaufen.

Antonio Cassano und Mario Balotelli bedanken sich für das in sie gesetzte Vertrauen und die gewährten Freiheiten mit guten Leistungen, mehr als eindrucksvoll dargeboten vom ManCity-Legionär zuletzt im Spiel gegen Deutschland.

Variabilität und Pirlo

Hinter den beiden extrovertierten Angreifern arbeitet ein Mittelfeld, das sich durch seine ideale Arbeitsverteilung profiliert. Daniele De Rossi und Claudio Marchisio stehen als passstarke Zweikämpfer Andrea Pirlo zur Seite, der offensiv in den letzten Spielen zudem von Riccardo Montolivo entlastet wurde.

Während sich der Juventus-Spielmacher, bislang der überragende Mann im blauen Dress (und vielleicht auch bei der EM), die Bälle vor der Abwehr holt und aus der Tiefe kommt, schließt Neo-Milanista Montolivo die Räume zwischen Angriff und Mittelfeld, in denen gewöhnlich die gegnerischen „Sechser“ operieren.

Vor Weltklasse-Torhüter Gianluigi Buffon sichert eine Abwehrreihe ab, deren Mitglieder in der Lage sind, ohne großen Qualitätsverlust zwischen Dreier-, Vierer- oder in der defensivsten Variante Fünferkette umzuschalten. Während die Italiener in den ersten beiden Partien im Dreierverbund inklusive „halbem Libero“ aufliefen, verteidigen seit der Rückkehr von Andrea Barzagli wieder vier Mann.

Bild 1: Eine Variante des 3-5-2; Bild 2: Das 4-4-2 mit Raute

Del Bosque setzt auf mehrere Offensiv-Akteure vom Typ Spielmacher und verzichtet stattdessen auf reine Flügelspieler. Dadurch ergeben sich im Zentrum schier unendliche Pass-Optionen, die Räume werden allerdings verengt.

Wer sich die letzten Auftritte der „Seleccion“ in Erinnerung ruft, erkennt den Unterschied im Spiel nach vorne, wenn zum Beispiel Jesus Navas oder Pedro, oder wie zuletzt gegen Portugal sogar Beide gemeinsam, am Feld stehen.

Die taktische Maßnahme, den Flügel zu fixieren, kennt man im Übrigen von Pep Guardiola und seinen in der letzten Saison bevorzugten Einwechselspielern Isaac Cuenca und Cristian Tello. Die Ausweglosigkeit, mit der sich die spanische Nationalelf mitunter konfrontiert sieht, erinnert frappant an Barca in Duellen mit ultradefensiven Gegnern. Chelsea lässt grüßen.

Ausblick:

Das Duell Spanien gegen Italien wird auf taktischer Ebene zweifelsohne ein Highlight, allein schon dadurch bedingt, dass sich die beiden Mannschaften erst vor knapp zwei Wochen gegenüberstanden. Damals überraschte die „Squadra Azzurra“ den Titelträger mit geschickter Raumdeckung aus einem Fünfer-Mittelfeld, das obendrein immer wieder über die Flügelspieler hinter das spanische Pressing gelangte und das Innenverteidiger-Duo Ramos-Pique so unter Druck setzte. Mittlerweile hat Teamchef Prandelli allerdings auf ein 4-4-2 umgestellt, womit er nominell einen Spieler weniger gegen das spanische Ideenzentrum zur Verfügung hat. Man darf gespannt sein, ob der Chefcoach seiner propagierten Offensiv-Einstellung treu bleibt, oder aber Aufstellungs-Opfer bringt.

Auf der gegenüberliegenden Seite ist Del Bosque gezwungen, aus der torlosen Partie gegen Portugal seine Lehren zu ziehen und sich für die Offensive neue Varianten zu überlegen. Noch einmal wollen sich die Iberer sicher nicht in ein Elfmeterschießen zittern. Spanien wird seinem Stil treu bleiben, viel deutet aber auf Umstellungen in der Offensive hin, nicht nur weil Alvaro Negredo in seiner Rolle wenig überzeugte.

Der Titelträger bleibt auch im zweiten Duell Favorit, wenngleich sich die Italiener aufgrund ihrer ausgeglichenen Mannschaft als ebenbürtig präsentieren. Wie auch immer das Duell ausgeht, Italien hat sich bei den Fans durch sein erfrischendes Spiel so viele Sympathien verschafft, dass es zumindest in diesem Punkt den Spanier bereits den Rang abgelaufen hat.


Christian Eberle