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Löws "Glücksgriffe", die eigentlich keine sind

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Ruhig, aber bestimmt. So kennt man Joachim Löw gemeinhin. An der Seitenlinie wie auch gegenüber der Presse-Meute.

Im Viertelfinale gegen Griechenland offenbarte er der Fußball-Welt seine emotionale Ader: Nach 25 Minuten wandte er sich erbost ab. Gestikulierte ob fahrlässig vergebener Chancen wild - und flüchtete.

Geradewegs stapfte er Richtung Kabinentrakt, wollte seine innere Balance zurückerlangen. Um wieder der besonnene „Jogi“ zu sein. Doch er wirkte angespannt. Belastung, die beim Torjubel wie eine Zentnerlast abfiel.

Exzessiv sprang der DFB-Bundestrainer in seiner Coaching-Zone umher. Erinnerte dabei an BVB-„Vulkan“ Jürgen Klopp.

Schlussendlich wurde der Aufstieg mit einem 4:2-Festival souverän realisiert. Ganz im Stile eines dreifachen Welt- und Europameisters.

Löw, der heimliche Superstar der EURO, hatte alles richtig gemacht – schon wieder.

Viel riskiert, viel gewonnen

„Ich wollte unberechenbarer für den Gegner sein“, resümierte der 52-Jährige erleichtert. Er scheute nicht davor zurück, seine Offensive-Reihen umzukrempeln. Mario Gomez, Thomas Müller und Lukas Podolski verbannte er auf die Bank. Machte sich so für die Öffentlichkeit angreifbar. Ein Scheitern wäre unweigerlich auf seinen „Übermut“ zurückgefallen. Doch es scheint, als wäre der „kühle“ Taktiker fehlerresistent.

Was er bei seiner dritten Endrunde als alleiniger Verantwortungsträger auch anpackt, wird zu purem Gold. Da wäre Mats Hummels (Portrait). Überraschend durfte sich der Dortmunder bewähren und mauserte sich in der Abwehr-Zentrale zum Organisator.

Oder Bayern-Bomber Gomez. Trotz deutschlandweiter Widerstände ist er die Renaissance der „Neun“. Lars Bender, Matchwinner gegen Dänemark.

Nicht zu vergessen die quirligen Marco Reus, Andre Schürrle dazu Miroslav Klose, welche gegen die „Hellenen“ das teils statische Spiel belebten. Und nun gegen Italien (LIVE-Ticker ab 20:45 Uhr)? Wieder Gomez? Podolski? Doch die jungen "Wilden"?

Wer denkt, jene Glücksgriffe seien ein Zufalls-Produkt, irrt. Hinter all dem steckt ein Konzept. Ein von langer Hand entworfenes. Der Ursprung liegt rund acht Jahre zurück.

Fundiertes Scouting ein Schlüssel

Jürgen Klinsmann läutete damals als frischgebackener Teamchef das „moderne“ Zeitalter ein. Er sollte, im Hinblick auf die Heim-WM ‘06, den Fußball revolutionieren. Hinterfragte alt eingesessenen Strukturen, scharrte Spezialisten um sich und formte ein Team der Zukunft.

„Eigene Manager, Psychologen und Fitness-Experten gab es in dieser Form noch nicht. Die Erkenntnisse, die er einbaute, gehörten im Basketball oder Eishockey zur Normalität. Nur im Fußball nicht“, betont Professor Jürgen Buschmann.

Nach dem jüngsten Erfolg wurde ihm ein Maulkorb verordnet, sogar der "Bild" erteilte er eine Absage. Mit LAOLA1 sprach das Mosaiksteinchen eines gesamten "Kunstwerks".

Löw hat vollstes Vertrauen in Flick

Qualitative und quantitative Analyse

Der Leiter des Zentrums für Olympische Studien gewährt einen Einblick: „Wir analysieren in der Regel nur die Fernsehbilder. Dadurch verlieren wir ungefähr fünf Prozent. Es langt allerdings, um das herauszubekommen, was wir wollen.“

Anhand der vergangenen fünf Qualifikations-Partien, den Testläufen im Vorfeld und EM-Auftritten wird zuallererst eine Basis geschaffen. „Stärken und Schwächen jedes Einzelnen. Zudem sind Struktur sowie bevorzugtes System bekannt. Die Untersuchung geschieht schließlich qualitativ und quantitativ.“

Letztere wären imponierende Werte wie 71 Prozent Ballbesitz, 25:9 Torschüsse, 709:220 Pässe - jene demonstrierten die Überlegenheit gegen Griechenland. Für Journalisten schöne Zahlen-Spielchen, für Löw und Co. bedingt relevant.

„Man muss Strukturen erkennen. Wie verläuft der Aufbau? Welche Seite wird verstärkt beackert, oder geht es durch die Mitte? Wie entstehen Tore und Gegentreffer? Wie hoch und tief stehen sie dabei?“

Paradigmenwechsel bei der EURO 2008

Fundmental für die Strategie-Entfaltung sind „gruppen- oder mannschaftstaktisches Verhalten sowie das Umschalten nach Ballgewinn und -verlust. Abstände sind zu beachten: Wo und wann entstehen die Lücken? Wie agieren sie bei 0:0, Rückstand oder Führung?“

Darüber informiert zu sein, wie sich offensive Laufwege gestalten, wer Standard-Situationen ausführt und in welcher Form, gehört gewissermaßen zum guten Ton. All das erfolgt unter Prämisse der Spiel-Philosophie, welche bei der EURO 2008 in Österreich und der Schweiz zarte Züge annahm.

Erstmals vertraute Löw beim 3:2-Viertelfinal-Triumph über Portugal auf das seinerzeit noch „exotische“ 4-2-3-1, inzwischen das System schlechthin. Ein Paradigmenwechsel war vollzogen. Entgegen dem Credo Ewig-Gestriger verabschiedete man das "deutsche" 4-4-2, zu Gunsten des Ideen-Reichtums.

Unter "Klinsis" Regie rief der DFB anno 2005 das Scouting-Projekt an der Sporthochschule Köln ins Leben. Buschmann bekam den Auftrag, für das viel titulierte Sommer-Märchen 31 Kontrahenten zu durchleuchten. Zwar blieb das "schwarz-rot-goldene" Happy End aus, die Observation schritt jedoch unweigerlich voran.

„Es wurde ständig fundierter. Ich kann bei aller Bescheidenheit behaupten, dass wir eines der besten Systeme entwickelt haben.“

„Zweikampf wäre zu ungenau“

Waren einst noch 16 Studenten beschäftigt, beobachten mittlerweile 45 Auserkorene das Geschehen mit Argusaugen. Eine Vergangenheit am runden Leder wird vorausgesetzt. „Sie sollten zumindest auf mittlerem Amateur-Niveau kicken. Dennoch gibt es Ausnahmen, die schnell den Blick entwickeln.“

Um Spiele zu lesen, Problemfelder und Vorzüge zu erkennen, ist taktisches Verständnis essentiell. Ein genormtes Fachvokabular ebenfalls. „Der Begriff Zweikampf wäre uns zu ungenau. Wir sprechen vom Unterbinden passverhindernder Aktionen oder gegnerüberwindenden Dribblings.“

Um barrierefrei zu kommunizieren, sind Löws Adjutanten regelmäßig zugegen. „Kontakt besteht über Assistent Hansi Flick und Chef-Scout, Urs Siegenthaler“, ergänzt Buschmann, der sowohl aktiven als auch wissenschaftlichen Background vereint.

„Ich lief in der höchsten Amateur-Klasse, heutzutage wäre es die dritte Profi-Liga. Außerdem war ich Dozent für Fußball, habe mich immer mit dem Sport beschäftigt. Seit sieben Jahren umso intensiver.“ Wie intensiv, lassen 300 bis 500 Seiten umfassende Scouting-Berichte erahnen.

Ergebnisorientierter wich dem südländischen Spaß-Fußball. Das starre Korsett der Disziplin brach die junge Garde um Primgeiger Mesut Özil auf. Deutschland brilliert heutzutage durch Variabilität. Neue Bedürfnisse und Herausforderungen kristallisierten sich so heraus. Auch für die Spione.

Nur fünf Seiten für den Bundestrainer

Begreift man die Spielkultur, kann der Opponent bestmöglich eingeordnet werden. „Aber: Wenn wir meinen, was erkannt zu haben, werten wir nicht. Dies liegt in den Händen der Entscheidungsträger: Sie müssen verifizieren oder falsifizieren.“

Infolgedessen werden sämtliche Erkenntnisse durch Grafiken, Tabellen und bewegte Bilder belegt. „Jede Aussage muss in der Regel mit mehreren Video-Sequenzen versehen werden. Pro Team sind es bis zu 30 Gigabyte DVD-Material“, so Buschmann.

Zum sportlichen Exposé gesellt sich noch ein mediales. „Was der Kontrahent über einen denkt, ist für den DFB durchaus von Interesse.“

Aus dem mannigfaltigen Spektrum selektieren Co Flick und die Scouts vor Ort wesentliche Charakteristika. „So entsteht ein Extrakt von vielleicht fünf Seiten, welches zur Besprechung mit dem Bundestrainer herangezogen wird.“

„Wir wollen unsere Philosophie stärken“

Basierend darauf werden die Schützlinge „individuell“ vorbereitet. Wobei sich Deutschland dank viertem Halbfinal-Einzug en suite in der glücklichen Lage wähnen darf, seine Ausrichtung nicht an den Gegenüber adaptieren zu müssen. Selbst gegen „Großmächte“ á la Italien ist Löws Devise eindeutig.

„Wir wollen unsere Philosophie stärken. Die eigenen Spielweise stellen wir über alles, wollen agieren, nicht reagieren.“ Deshalb konzentriere sich der Baden-Württemberger nicht „mehr als 15 bis 20 Prozent“ auf den wiedererstarkten Antagonisten.

Gleichwohl ist dies eine „Kleinigkeit“ (O-Ton Buschmann), welche die Marschroute beeinflusst. Ob Löw gegen die „sehr variablen“ Azzurri neuerlich sein überdurchschnittlich breites Potenzial ausschöpft, scheint nicht unwahrscheinlich.

„In gewissen Situationen brauche ich andere Typen.“ Deutschlands mächtigster - und überaus loyaler – Betreuer konnte sein Repertoir längst bereichern. Außer Özil scheint an vorderster Front niemand eine Stammplatz-Garantie zu besitzen.

Dennoch: „Alles was er macht, hat Hand und Fuß“, so Sami Khediras treffender Kommentar. Auf den nächsten akribisch vorbereiteten „Glücksgriff“ darf man bereits gespannt sein.

Christoph Köckeis